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Ein Weg durchs Tal

Aus dem Schwerpunkt "Depression bei Sehverlust", Retina aktuell Nr. 150 (04/2018)

In der Motorradsaison 2006 ließ ich meine Maschine immer öfter stehen, ohne genau zu wissen, warum. Ich wurde beim Biken zunehmend unsicherer. Im Herbst erschreckten mich häufige Unfälle mit dem Fahrrad. Schließlich bekam ich Angst, wenn ich nur eine Straße ohne Ampel überqueren musste. Als ich dann auch noch anfing, Hindernisse zu halluzinieren, fürchtete ich, meinen Verstand zu verlieren und sprach monatelang mit niemandem darüber. Täglich verzweifelte ich im Büro, weil ich Texte nicht richtig lesen konnte, obwohl diese weder zu klein noch zu unscharf erschienen. Das ständige Suchen nach dem Mauszeiger machte mich fertig. Meine Wut darüber ging nur nach innen. Sich anbahnende Konflikte mit dem Chef wurden für mich belanglos. Die Unsicherheit auf Treppen, Schwierigkeiten bei der Gesichtserkennung und ständig nervendes Flimmern kamen noch hinzu.

Angst, Rad- und Ratlosigkeit

Im neuen Jahr suchte ich meine Augenärztin auf, die hörbar überfordert war mit der Deutung meines ermittelten Gesichtsfelds. Nach monatelangen, ergebnislosen Untersuchungen bei unterschiedlichen Fachärzten ging ich im Mai in eine weit entfernte Neuroophthalmologie. Nach zweitägiger Untersuchung erfuhr ich, dass es sich um eine seltene, erbliche Netzhauterkrankung handele, es aber weder Therapiemöglichkeiten noch Regeln für die Fortschrittsgeschwindigkeit gebe. Das Endstadium sei für gewöhnlich die völlige Erblindung. Auch wenn diese Nachricht schlimmer war, als von mir befürchtet, nahm ich sie zunächst ganz gut auf. Immerhin ist das Erreichen des Endstadiums gar nicht sicher. Ich war nur unzufrieden, weil ich noch immer keine Verlaufsprognose bekam.

Verdrängung und Verlustängste

Meine Schwierigkeiten am Arbeitsplatz erinnerten mich danach in jeder Sekunde an meine Diagnose – Tag für Tag. Eines Abends Anfang Juni wollte ich gerade nach Hause gehen, als ich durch das offene Bürofenster ein sehr lautes Motorrad hörte. Ich ließ meinen Rucksack wieder aus der Hand auf den Boden gleiten – ich würde nie wieder auf meinem Motorrad sitzen und Gas geben. Was würde ich sonst noch aufgeben müssen? Hunderte von Verlustängsten überkamen mich auf einmal. Dabei verlor ich die Fassung und sackte in meinen Bürostuhl zurück. Mein Kollege konnte gleich zurückkommen. Ich stand auf, trocknete meine Augen, setzte meinen Rucksack auf und ging. Es dauerte fast ein halbes Jahr, bis ich beruflich neue Motivation fand, jedoch war es damit bald wieder vorbei, als ich merkte, dass mein Chef nun ständig Andeutungen zu meiner Erkrankung machte, wenn er mir mal wieder ein Verbot aussprach, das mich am Promovieren hinderte. So schien mein damals einziges Ziel im Leben wegzubrechen – Bürstenbinden statt Promotion?

Zweifel am eigenen Wert

Kurz nach Erhalt meiner Diagnose hatte ich ein Date mit einer wirklich liebreizenden Medizinstudentin. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch, jedoch brach sie den Kontakt sofort wieder ab, nachdem ich ihr von meiner Diagnose erzählte. Meine Aktien auf den Arbeits- und Heiratsmärkten sah ich rapide fallen. Offenbar war es wohl das Dümmst-mögliche, einem Chef oder einem Date oder irgendjemandem von dieser Schwäche zu erzählen. Mir fehlte jegliche Kraft, mich gegen Ungerechtigkeiten und laufende Intrigen zu wehren, wie ich sie durch Vorgesetzte erleben musste. Schwindel, Übelkeit, Nervenschmerzen und Müdigkeit überkamen mich. Beim Verdacht auf Morbus Menière, eine Krankheit, die zum Hörverlust führen kann, sah ich rot. Nach ein paar Tagen in einer HNO-Klinik wurde ich mit der Vermutung „larvierte Depression“ entlassen. Monatelang ärgerte mich dieser Befund, aber als mir auch noch meine Betreuungszusage zur Promotion entzogen wurde, ertappte ich mich, wie ich mich mit dem Thema Suizid beschäftigte.

Rational zum Wendepunkt

Unter dem Einfluss unterschiedlicher Moralvorstellungen war ich auf der Suche, was richtig und falsch ist. Die Wissenschaft meint dazu, einen depressionsgetriebenen Suizid dürfe man nicht zulassen, weil eine Depression eine Krankheit sei, die eine rationale Entscheidung zur Wahl über Leben und Tod unmöglich mache. Mir wurde schlagartig klar, dass ich krank war. Inwiefern mir meine anschließende Psychotherapie geholfen hat, weiß ich gar nicht genau, aber ich sehe heute vieles anders: Konflikte mit Vorgesetzten entstanden nicht wegen meiner Sehminderung. Sie verschlimmerten sich nicht einmal dadurch, sondern wegen meines Fehlverhaltens, das von meinen unbewussten Ängsten herrührte. Der offene Umgang mit der Seheinschränkung war immer richtig, denn Konflikte wären sonst noch schlimmer und häufiger aufgetreten. So habe ich es nie bereut, meinem nächsten Chef diese Sehschwäche offenbart zu haben.

Wenn ich heute neue Leute kennenlerne, zeigen sich diese immer sehr interessiert daran, was und wie ich sehe. Abschreckend daran ist nur die Verzweiflung, die immer mitschwingt, solange die Erkrankung noch nicht verarbeitet ist. Meine Augenerkrankung brachte mir völlig neue Sichtweisen, die mein Leben mehr bereicherten, als mir meine Einschränkungen je nehmen könnten.