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10. Internationales PRO RETINA-Forschungskolloquium in Potsdam
10. Internationales PRO RETINA-Forschungskolloquium in Potsdam Degenerative Netzhauterkrankungen – ein interdisziplinärer Austausch
Unter dem Motto „Diagnostische Fortschritte, neue Erkenntnisse molekularer Prozesse und Weiterentwicklung der therapeutischen Ansätze“ tagte Ende März bereits zum zehnten Mal das internationale PRO RETINA-Forschungskolloquium in Potsdam.
Beim bislang größten Treffen stand für die rund 135 anwesenden Wissenschaftler und Mediziner aus Europa und Amerika erneut der interdisziplinäre Austausch zwischen Grundlagen- und klinischer Forschung im Mittelpunkt. In einer Vielzahl von Vorträgen wurde über aktuelle klinische Studien und neue Erkenntnisse aus der experimentellen Forschung berichtet. Besonders große Bedeutung hatte einmal mehr die Diskussion zwischen den teilnehmenden Nachwuchswissenschaftlern und den anwesenden erfahrenen Arbeitsgruppenleitern und Professoren. Über das diesjährige Treffen berichten aus dem Kreis der Bonner Teilnehmer Dipl. Biol. Johanna Meyer, M.Sc. Niklas Domdei, Dr. Moritz Lindner, Dr. Philipp Müller, Dr. Martin Gliem, Dr. Wolf Harmening und Prof. Peter Charbel Issa im Augenspiegel.
Eröffnet wurde das Kolloquium durch Franz Badura, dem Vorstandsmitglied der Pro Retina-Stiftung und Vorstandsvorsitzenden der PRO RETINA Deutschland e. V., der die wissenschaftlichen Sitzungen einleitete.
Entwicklungen in der Forschung
Der anschließende Eröffnungsvortrag wurde von Professor S. Fliesler (SUNY Eye Institute, Buffalo, USA) gehalten. Er gab eine interessante und anschauliche Übersicht über die rasante Entwicklung bei der Erforschung von degenerativen Netzhauterkrankungen der letzten zehn Jahre, bei der eine Vielzahl von Innovationen in unterschiedlichen Bereichen das grundlegende Verständnis der Erkrankungen verbessert hat: weiterentwickelte nichtinvasive bildgebende Untersuchungsmethoden, neue Verfahren im Bereich der Elektroretinographie und der Gensequenzierung, eine Vielzahl neuer Tiermodelle. Weitere innovative Strategien zur Therapie degenerativer Netzhauterkrankungen umfassen unter anderem die Stammzellforschung, Neuroprotektion und Nanopartikel. Einige dieser therapeutischen Anwendungen befinden sich bereits in frühen Phasen der klinischen Testung und werden sich möglicherweise in Zukunft als neue therapeutische Optionen erweisen.
Pathophysiologische Mechanismen
In der zweiten wissenschaftlichen Sitzung des Tages standen pathophysiologische Mechanismen im Vordergrund, die bei degenerativer Netzhauterkrankung eine Rolle spielen können. Der Einfluss von Mikrogliazellen (die ersten Zellen, die auf pathologische Ereignisse reagieren und die Immunantwort des Gehirns einleiten) auf degenerative Netzhauterkrankungen wurde von Professor S. Thanos (Institut für experimentelle Ophthalmologie, Münster) vorgestellt. Mikrogliazell-assoziierte Veränderungen werden mit einer Reihe von Krankheiten in Verbindung gebracht und können sowohl einen schützenden als auch einen destruktiven Einfluss auf die umliegenden Netzhaut-Zellschichten aufweisen. Oftmals ist die genaue Rolle von Mikrogliazellen während des Fortschreitens der Erkrankung noch nicht vollständig geklärt. Tierexperimentelle Studien berechtigen zu der Hoffnung, dass eine Einflussnahme auf Mikrogliazellen ein potentiell aussichtsreiches Prinzip für die Entwicklung neuer therapeutischer Strategien werden könnte.
Durch neue Untersuchungen der letzten Jahre konnten die grundlegenden Mechanismen der Apoptose (programmierter Zelltod) analysiert werden, wodurch eine genauere Klassifizierung der Apoptose in unterschiedliche Klassen möglich ist. So erforscht Professor P. Vandenabeele (Biomedical Molecular Biology, Gent, Belgien) die molekularen Mechanismen und die Bedeutung einer dieser Zelltod-Klassen, der Nekrose, für degenerative Netzhauterkrankungen. In den letzten Jahren wurden verschiedene Enzyme und Faktoren identifiziert, die einen entscheidenden, sowohl positiv als auch negativ regulierenden Einfluss auf die unterschiedlichen Zelltod-Klassen haben. Zurzeit sind erste Versuche im Tiermodell zur Manipulation der Nekrose-Signalmoleküle geplant.
A. Aspelund aus der Gruppe von Professor K. Alitalo (Molecular/Cancer Biology Laboratory, Helsinki, Finnland) präsentierte aussichtsreiche Daten zu dem in Helsinki untersuchten Ansatz, den Wachstumsfaktor "vascular endothelial growth factor" (VEGF) multipel, also an mehreren Positionen, zu hemmen, um einen größeren funktionalen Effekt bei der therapeutischen Anwendung gegen retinale Erkrankungen wie der altersabhängigen Makuladegeneration (AMD) zu erzielen. Die VEGF-Proteinfamilie besteht aus fünf Mitgliedern, wobei sich aktuelle VEGF-Hemmstoffe insbesondere gegen das VEGF-A und nicht gegen die anderen Mitglieder dieser blutgefäßbildenden Wachstumsfaktoren richten. Eine multiple und kombinierte Behandlung gegen die verschiedenen VEGF-Faktoren könnte eine effizientere Therapie von Patienten ermöglichen, was aber in weiteren Versuchen im Tiermodell untersucht werden muss.
Als einen weiteren an degenerativen Netzhauterkrankungen beteiligten Mechanismus stellte E. Ramos de Carvalho (Department of Ophthalmology and Cell Biology and Histology, Amsterdam) seine aktuellen Forschungsarbeiten zum Proteasom (Proteinabbauender Proteinkomplex) vor. Eine beeinträchtigte Proteasomen-Aktivität führt bei In-vitro- und tierexperimentellen Studien zu einem fehlerhaften Abbau von Stoffwechselprodukten in der Netzhaut und letzendlich zur Degeneration der Photorezeptoren, eine abnormale Entzündungsreaktion und choroidale Neovaskularisationen. Ein möglicher therapeutischer Ansatzpunkt bei degenerativen Netzhauterkrankungen könnte daher die Regulierung und Erhaltung der Aktivität der Proteasomen darstellen.
PRO RETINA-Stiftungsprofessuren
Die dritte wissenschaftliche Sitzung stand im Zeichen der Geschichte der PRO RETINA-Stiftung und gab einen Einblick in die Arbeit der von der Stiftung ins Leben gerufenen Stiftungsprofessuren an den Universitäten in Bonn und Regensburg.
Zuerst präsentierte Professor Antje Grosche (Stiftungsprofessur am Institut für Humangenetik, Universität Regensburg) ihre aktuellen Forschungsarbeiten zur Rolle der Müllerzellen im Auge. Müllerzellen sind Gliazellen (als Gliazellen werden beim Menschen alle Zellen des Nervensystems bezeichnet, die Nervenzellen unterstützen, selbst aber keine Nervenzellen sind) der Netzhaut und an Prozessen der neuronalen Degeneration der Netzhaut beteiligt. Grundlegende Arbeiten zeigten, dass Müllerzellen eine Vielzahl wichtiger Funktionen in der Retina ausüben, wie beispielsweise die Aufrechterhaltung der extrazellulären Ionen- und Volumenhomöostasis (Gleichgewicht). Deshalb spielen Müllerzellen wahrscheinlich bei unterschiedlichen Erkrankungen eine wichtige Rolle in der Pathogenese des Makulaödems. Müllerzellen können auch die Funktion benachbarter, intakter Neurone beeinflussen und stellen somit auch eine interessante Zielstruktur für mögliche therapeutische Manipulationen dar.
Professor P. Charbel Issa (Stiftungsprofessur an der Universitäts-Augenklinik Bonn) präsentierte eine Übersicht zu neuen Entwicklungen in der Diagnostik und möglichen therapeutischen Ansätzen beim Morbus Stargardt. So konnte in seinen Forschungsarbeiten gezeigt werden, dass ein Vitamin-A-Derivat (deuteriertes Vitamin A) im Mausmodell die Bildung toxischer Substanzen verhindert. Erste klinische Studien zu diesem vielversprechenden Ansatz sind bereits initiiert. Zudem stellte Issa ein neues Verfahren zur verbesserten Diagnostik bei Patienten mit retinalen Dystrophien vor: Anhand der so genannten quantitativen Autofluoreszenz steht seit kurzem ein diagnostisches Verfahren zur Verfügung, das eine Quantifizierung des Autofluoreszenzsignals mit einem innovativen bildgebenden Verfahren ermöglicht. Da die Fundusautofluoreszenz im Wesentlichen auf Lipofuszin ("Alters- oder Abfallpigment") zurückzuführen ist, könnte die quantitative Autofluoreszenz darüber hinaus als möglicher Biomarker sowohl für den Krankheitsverlauf als auch für den Behandlungserfolg eingesetzt werden. Zudem scheint auch eine bessere Abgrenzung zu ähnlichen Erkrankungen möglich.
Anschließend gab Professor T. Langmann (Experimentelle Immunologie des Auges, Universität Köln – ehemals Inhaber der PRO RETINA-Stiftungsprofessur in Regensburg) einen spannenden Einblick über seinen wissenschaftlichen Werdegang der letzten neun Jahre. Dabei lag das Interesse von Langmann neben der Analyse grundlegender genetischer Ursachen retinaler Dystrophien insbesondere auch in der pathophysiologischen Bedeutung von Mikrogliazellen. Diese bilden innerhalb der Retina eine Art Netzwerk aus, das durch verschiedene Faktoren empfindlich gestört werden und zur Degeneration der Netzhaut beitragen kann. Ein besseres Verständnis der Funktionsweise dieser Zellen könnte erheblich dazu beitragen, seltene erbliche retinale Erkrankungen, aber auch AMD zu behandeln und neue Strategien und Behandlungsmöglichkeiten zu entwickeln. In dieser Sitzung wurde deutlich, dass durch die gezielte Forschungsförderung der PRO RETINA-Stiftung hervorragende wissenschaftliche Expertise für die Erforschung retinaler Erkrankungen gewonnen werden konnte.
Diagnostik
Die Diagnostik retinaler Erkrankungen stand im Mittelpunkt der vierten wissenschaftlichen Sitzung. Eine Übersicht über die Möglichkeiten der Anwendung von adaptiven Optiken zur Untersuchung der Netzhaut wurde von Dr. W. Harmening (Universitäts-Augenklinik Bonn) dargelegt. Adaptive Optiken ermöglichen durch den Ausgleich der Abbildungsfehler des Auges die Darstellung von einzelnen Zellen der Retina. Selbst Zapfen, Kapillaren, Zellen des retinalen Pigmentepithels, die Lamina Cribrosa und die Axone der retinalen Ganglienzellen können dargestellt und beobachtet werden. Zudem erlaubt die Technik eine funktionale Überprüfung einzelner Photorezeptoren mittels psychophysikalischer Testung im Sinne einer verfeinerten Mikroperimetrie. Die nichtinvasive und detailreiche Abbildung einzelner retinaler Zellen ermöglicht neue Einblicke in die Pathogenese retinaler Erkrankungen. Auch kann die Progression retinaler Krankheiten besser nachvollzogen und so möglicherweise die Diagnostik verfeinert oder individualisiert werden, der Behandlungserfolg genauer verfolgt werden. Zurzeit befinden sich die Geräte in der präklinischen Testung und sind noch nicht kommerziell erhältlich.
Vor zwölf Jahren wurde die erste optische Kohärenztomographie (OCT) vorgestellt, welche die Diagnostik für viele Patienten verfeinerte und ein besseres Verständnis von retinalen Erkrankungen ermöglichte. Professor J. de Boer (Biophotonics and Medical Imaging Group, Department of Physics, Amsterdam) fasste in seinem Vortrag die aktuellen Entwicklungen neuer OCT-Systeme zusammen. Mithilfe dieser Technik können retinale Gefäße von Patienten mit verschiedenen Erkrankungen detailgenau und nichtinvasiv visualisiert werden, was beispielsweise bei der diabetischen Retinopathie einen diagnostischen und therapeutischen Nutzen darstellt.
Eine Übersicht über neue Entwicklungen im Bereich der Elektrophysiologie und deren Möglichkeiten wurde von Professor M. Hoffmann (Universitäts-Augenklink Magdeburg) gegeben. Die ophthalmologische Elektrophysiologie findet seit Jahren eine breite Anwendung in der Klinik, ermöglicht die Untersuchung der visuellen Funktion und wird genutzt, um das Ausmaß der Krankheitsmanifestation darzustellen.
Anschließend wurden die Möglichkeiten und Fortschritte auf dem Gebiet der molekulargenetischen Diagnostik von Professor H. Bolz (Bioscientia, Ingelheim) anhand aktueller Beispiele vorgestellt. Durch die Entwicklung neuer Sequenzierungsmethoden ("next generation sequencing") können DNA-Analysen schneller und mit einer höheren Detektionsrate durchgeführt werden. Dadurch konnte die molekulargenetische Diagnostik retinaler Erkrankungen in den letzten Jahren deutlich verbessert werden, so dass inzwischen ursächliche Mutationen bei einem großen Anteil der Patienten identifiziert werden können. Technische Limitationen wurden besprochen, ebenso wie die Problematik der regelhaften Kostenübernahme durch Kostenträger.
Translationale Projekte
Die letzte wissenschaftliche Sitzung thematisierte translationale Projekte bei degenerativen Netzhauterkrankungen (translational: Schnittstelle zwischen präklinischer Forschung und klinischer Entwicklung). Professor Astrid Limb (Institut of Ophthalmology, London) erläuterte die Idee einer müllerzellbasierten Stammzelltherapie für unterschiedliche degenerative Netzhauterkrankungen. Erste Versuche, die ausdifferenzierten Zellen in den subretinalen Raum in Augen von Ratten und Katzen zu transplantieren, zeigten vielversprechende Ergebnisse. Die Zellen migrieren in die Netzhaut und exprimierten photorezeptortypische Marker. Allerdings konnte bisher keine funktionale Integration der transplantierten Zellen in die Netzhautschichten festgestellt werden.
Der aktuelle Forschungsstand der Stammzelltherapie für degenerative Netzhauterkrankungen wurde auch von Professor Y. Arsenijevic (Universitäts-Augenklinik Jules-Gonin, Lausanne) vorgestellt und kritisch beleuchtet. Die Stammzelltherapie ist zurzeit ein viel diskutiertes Thema: Das Potential ist groß, doch noch sind die technischen Herausforderungen enorm. Je nach Erkrankung sind Netzhaut und retinales Pigmentepithel (RPE) unterschiedlich betroffen, was bei dem Therapieansatz berücksichtigt werden muss. Eine Herausforderung bleibt die Differenzierung von Stammzellen – in beispielsweise Photorezeptor- oder RPE-Zellen – und die anschließende erfolgreiche Kultivierung und Transplantation dieser Zellen. Dies muss an Tiermodellen noch herausgearbeitet werden.
In dem abschließenden Vortrag des Tages stellte Dr. Stefanie Hauck (Helmholtz Zentrum München, Research Unit Protein Science) neue Daten der HOPE I- und HOPE II-Konsortien zur Untersuchung der Rolle von neurotrophen Faktoren bei degenerativen Netzhauterkrankungen vor. Die Neuroprotektion durch neurotrophe Faktoren könnte ein aussichtsreicher, wenn auch früher Schritt bei der Therapie zur Erhaltung der retinalen Neuronen darstellen. Hauck konnte anhand von In-vitro-Versuchen zeigen, dass Müllergliazellen neurotrophe Faktoren ausscheiden. Durch die genauere Analyse und Identifizierung der einzelnen Faktoren zu den unterschiedlichen Untersuchungszeitpunkten können nun neue therapeutische Anwendungen an dem natürlichen Vorbild der retinalen Müllerzellen entwickelt werden. Ein besseres Verständnis könnte die Basis von vielfältig anwendbaren therapeutischen Strategien sein. Als nächster Schritt sind Versuche im Tiermodell geplant, bei denen neurotrophe Faktoren abgebende Zellen lokal transplantiert werden sollen, um eine effiziente und lokale Behandlung zu ermöglichen
Postersession
Am Abend fand die bewährte „Swingin‘ Postersession“ statt, bei der die anwesenden Nachwuchswissenschaftler Gelegenheit hatten, ihre aktuelle Forschungsarbeit in Form von Postern zu präsentieren. Die Postersession erwies sich als eine sehr gute Möglichkeit für junge Wissenschaftler, ihre Forschungsarbeit mit dem anwesenden Publikum zu diskutieren. Es gibt in Deutschland wohl kaum ein vergleichbares Treffen, bei dem der wichtige wissenschaftliche Austausch zwischen Studenten und erfahrenen Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Bereichen so gefördert und ermöglicht wird, wie bei dem PRO RETINA-Forschungskolloquium in Potsdam.
Zum Abschluss der Veranstaltung wurden drei Arbeiten mit dem „Pro Retina Poster Award 2015“ ausgezeichnet: Alexander Aslanidis aus Köln, Christin Hanke-Gogokhia aus Potsdam und Johanna Meyer aus Bonn.
Fazit
Dank der Organisatoren des PRO RETINA Meetings in Potsdam (www.pro-retina.de), Franz Badura, Prof. Klaus Rüther, Prof. Olaf Strauß und Prof. Bernhard Weber, konnte im Rahmen dieser in Europa einzigartigen Tagung erneut ein erfolgreicher, intensiver und interdisziplinärer Austausch zwischen Grundlagen- und klinischen Forschern erreicht werden.
Quelle:Der Augenspiegel