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Vom Sinn der Trauer

Aus dem Schwerpunkt "Depression bei Sehverlust", Retina aktuell Nr. 150 (04/2018)
Von Thomas Reichel, Logotherapeut und Existenzanalytischer Berater

Wir Menschen erheben oftmals den Anspruch an ein erfülltes, gutes, glückliches und gesundes Leben. Das Leben soll lebenswert sein, angefüllt mit schönen Erlebnissen und Genüssen. Diese Erwartungen an das Leben münden nicht selten in Enttäuschungen. Denn das Leben hält sich nicht an unsere Wünsche, Träume, Hoffnungen. Wenn dann eben dieses Leben etwa durch einen Schicksalsschlag nicht so verläuft, wie wir es erwartet haben, erleben wir uns verunsichert, überfordert oder der Sinn unseres Lebens geht uns verloren. Dann hadern wir, sind enttäuscht oder frustriert über diese Lebensumstände.

Besonders Menschen mit einer fortschreitenden Augenerkrankung erleiden immer wieder einen Verlust von Lebensqualität. Etwa wenn durch die nachlassende Sehkraft das selbstbestimmte Leben mehr und mehr verloren geht und das Angewiesen-Sein auf andere zunimmt. Wenn dadurch das Gefühl zunimmt, eine Belastung für andere zu sein oder keinen wertvollen Beitrag mehr leisten zu können, sowohl beruflich wie auch im familiären Umfeld. Vor allem einem Aspekt möchte ich an dieser Stelle nachgehen, nämlich dem der Trauer. Die Trauer um das, was nicht mehr gelebt werden kann und was unwiederbringlich vergangen ist. Wenn Wertvolles wegbricht wie etwa das Lesen, das Fahrradfahren oder wenn die Gesichter der Lieben nicht mehr erkannt werden, dann entstehen Gefühle wie Angst, Hoffnungslosigkeit und das immer wiederkehrende Gefühl der Niedergeschlagenheit, welches sogar in einer depressiven Verstimmung oder gar einer Depression münden kann. Der Lebensvollzug scheint dann nur sehr schwer möglich, alles ist anstrengend, die Vitalkräfte schwinden.

Mit Leben assoziieren wir Lachen, Weinen, Essen, Trinken, Genießen, Tanzen, Fühlen, Erleben, Glück, Aufregung, Sexualität, Freude – übrigens alles Begriffe, die an Lebendigkeit und Vitalität erinnern. Es sind Begriffe, die wir mit dem Leben verbinden. Dabei fällt auf, so Alfried Längle in einem Artikel (A. Längle, EA 2004, S. 5), dass das Kranke, Schwache, Depressive nicht mit Leben assoziiert wird. Das Leidvolle eines Schicksals etwa durch eine Erkrankung ist das genaue Gegenteil von Leben. Alles Schöne und Gute kann jetzt nicht mehr wahrgenommen werden, der Bezug zu Wertvollem, zum Leben eben, scheint verloren. Und dieser Verlust an Bezogenheit zum Leben kann in die Niedergeschlagenheit führen. Im Verständnis der Existenzanalyse ist Leben im Grunde ein Bezug zum Dasein. Es ist also nicht nur das Dasein in der Welt („Ich bin da“), sondern vielmehr die Frage: „Wie bin ich da?“ Es geht also nicht um das quantitative, vielmehr das qualitative Erleben des eigenen Lebens. Und eben diese Qualität des Lebens geht etwa bei einer fortschreitenden Augenerkrankung immer mehr verloren. Diese Verluste werden anfangs oftmals geleugnet, verdrängt, bagatellisiert oder überspielt, zum Beispiel durch besondere Anstrengungen, die dann unternommen werden. Dem eigentlich Leidvollen aber wird dann weder hinreichend Raum noch Zeit eingeräumt, eine Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen wie Wut, Verzweiflung, Angst oder Traurigkeit findet nicht statt. Denn eben diese Gefühle gehören nicht in unser Bild von Leben, dass primär von positiven Gefühlen und Momenten getragen sein soll. Natürlich wissen wir, dass es auch Krankheit, Leid und Tod im Leben gibt, aber wir empfinden sie nicht spontan als Leben (Längle, S. 5). Durch dieses Verständnis von Leben ist der Mensch fehlgeleitet, weil etwa die Trauer nicht zugelassen wird. Da verharren die Betroffenen in dem, was noch geht, in der Ablehnung oder der Wut, der nächste Schritt aber in die Traurigkeit wird nicht zugelassen. Vielleicht aus Sorge, dort nicht mehr herauszukommen oder gar in die Depression abzugleiten. Oder sich nicht zu erlauben, traurig zu sein, weil man sich nicht schwach oder als Opfer zeigen oder für das Umfeld keine Belastung sein möchte. So verständlich diese Motive sind, so führen sie doch am eigentlichen Problem vorbei, nämlich dem Schmerz des Verlustes. Denn die Trauer ist eine Bezogenheit zu eben diesem Wert, der nicht mehr gelebt werden kann. Diese Trauer verweist mich darauf, dass das, was nicht mehr geht, für mich etwas Besonderes war, wie etwa die Selbstständigkeit im eigenen Leben. Und natürlich macht der Verlust traurig. Denn wenn es mir nicht wichtig und wertvoll wäre, wenn es beliebig wäre, bräuchte ich nicht zu trauern. Dann würde ich es einfach nur zur Kenntnis nehmen, dass etwas nicht mehr geht und mich nach Alternativen umschauen. Aber so ist es eben nicht, denn durch die Traurigkeit erst erlebe ich, dass etwas Wertvolles weg ist, nicht mehr so geht und verabschiedet werden muss. Dass ist der eigentliche Sinn der Trauer, man nimmt Abschied von einem Wert, der nicht mehr gelebt werden kann. Indem dieser Wert durch die Trauer verabschiedet wird, kann er als etwas Bedeutsames geborgen oder verinnerlicht werden. Das jeweils Wertvolle wird in der Erinnerung geborgen, es bleibt somit in der Verbundenheit zu mir. Auch wenn der Wert physisch nicht mehr gelebt werden kann, so bleibt er als Erinnerung erhalten. Viktor Frankl fasste dies einmal im folgenden Zitat gut zusammen: Für gewöhnlich sieht der Mensch das Stoppelfeld der Vergänglichkeit, was er übersieht sind die vollen Scheunen der Erinnerung (V. Frankl, Ärztliche Seelsorge, 1982, S. 95).

Erst durch die Trauer kann der Mensch loslassen und wieder ins Leben kommen. Hält er jedoch fest, entsteht oftmals das Gefühl der Verzweiflung. Diese Verzweiflung kann ebenso in einer depressiven Verstimmung münden wie die nicht zugelassene Trauer. Aber wenn das Leben an sich einen Sinn hat, dann muss doch auch das Leid einen Sinn haben. Auch dazu hat Frankl geäußert, dass Verzweiflung nichts anderes ist als ein Leiden ohne Sinn.

Die eigentliche Aufgabe des Betroffenen kann es demnach nicht sein, sein Leid zu ertragen, sondern es vielmehr zu tragen, sich also für das Leidvolle im Leben zu entscheiden. Ein Leid zu tragen ist jedoch dem Menschen nicht mitgegeben. Die Leidensfähigkeit muss sich der Mensch erst erwerben, er muss sie sich „er-leiden“. Das Erwerben der Leidensfähigkeit ist ein Akt der Selbstgestaltung (Frankl, 1990, S. 323). Indem ich die Gefühle wie Wut, Trauer oder Angst zulassen kann, gestalte ich mein Leben und übernehme Verantwortung. Dadurch kann ich einer Depression entgegenwirken und muss nicht alle Kraft aufwenden, diese abzuwenden. Leidvolle Momente gehören ebenso zum Leben wie die schönen. Die Aufgabe ist es, zu diesen seine Zustimmung zu geben, es zu bejahen, dass es gerade einmal schwer ist, etwas traurig macht oder verunsichert. Es anzunehmen wie es ist oder zumindest auszuhalten, dass es gerade so ist, als ein Akt der Selbstgestaltung.