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Wie es in den Wald hineinruft...

Gedanken zur Kommunikation zwischen seheingeschränkten und sehenden Menschen

von Dipl.-Psych. Dr. Eva-Maria Glofke-Schulz

(zuerst veröffentlicht in: Horus. Marburger Beiträge zur Integration Blinder und Sehbehinderter, 3, 2010, Seite 119-122. Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung.)

Als soziale Wesen sind wir auf einen möglichst gelingenden Umgang miteinander angewiesen - nicht nur im Dienste des Überlebens und der Bewältigung unserer Alltagsaufgaben, sondern auch und in besonderem Maße unseres körperlichen und seelischen Wohlbefindens, der Entwicklung unserer geistigen Fähigkeiten und unserer Identität. In Abwandlung des Grundsatzes von René Descartes ("Ich denke, also bin ich") könnten wir sagen: "Ich kommuniziere, also bin ich." Wer nun angesichts dieser fundamentalen Bedeutung zwischenmenschlicher Kommunikation glaubt, in vielen tausenden Jahren Evolution habe die Menschheit so viel Übung erworben, dass nichts schief gehen könnte, irrt sich allerdings gewaltig. Bei Loriot hören wir: "Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen" und mitunter könnte man versucht sein, diesen Satz auf Menschen überhaupt zu verallgemeinern. Warum sonst finden wir in den Buchhandlungen ganze Regale voller einschlägiger Ratgeberliteratur, warum sonst boomen Kommunikationstrainings und therapeutische Angebote jeder Art? Warum sonst steigt von Jahr zu Jahr der Prozentsatz von Single-Haushalten? Kommen sprachliche, kulturelle, bildungsabhängige Barrieren oder gesundheitliche Einschränkungen hinzu, wird es noch komplizierter. Als blinde oder sehbehinderte Menschen erleben wir den Umgang mit Sehenden oft als schwierig und störanfällig, fühlen uns immer wieder verunsichert, manchmal vielleicht sogar regelrecht gehemmt und verkrampft. Im Extremfall kann sozialer Rückzug die Folge sein.

Im folgenden gehe ich aus meiner Sicht als blinder Frau und Psychotherapeutin auf die Kommunikation zwischen Sehgeschädigten und Sehenden ein. Ich will Schwierigkeiten benennen, aber auch Denkanstöße geben, die Mut machen und bei der Suche nach Lösungen behilflich sein sollen.

Schwierigkeiten haben viele Ursachen

Verunsicherungen, Irritationen oder im Extremfall das Scheitern von Interaktionsprozessen und zwischenmenschlichen Beziehungen können sich aus verschiedensten Quellen speisen. In meiner beratenden und psychotherapeutischen Arbeit mit Sehgeschädigten habe ich im Laufe der Jahre den Eindruck gewonnen, dass wir manchmal in Gefahr sind, Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen auch dann mit unserer Behinderung in Verbindung zu bringen, wenn sie bei ehrlicher Betrachtung damit wenig zu tun haben: Vielleicht sind wir ja aus ganz anderen Gründen schüchtern, selbstunsicher, genervt, initiativelos, distanziert oder was auch immer. Vielleicht haben schlechte Erfahrungen uns gelehrt, uns vor Nähe zu fürchten, uns arrogant, zurückhaltend, misstrauisch oder zu forsch zu verhalten. Wir mögen versäumt haben, gewisse Aspekte sozialer Kompetenz zu erwerben. Mancher mag sich so sehr in virtuellen Welten (Internet etc.) bewegen, dass er - einem gesellschaftlichen Trend folgend - zu Vereinzelung und Rückzug aus realen Kontakten neigt. Wer seine Überweisungen per Homebanking erledigt (was fraglos praktisch ist), verzichtet eben auf das Schwätzchen mit der Sparkassenangestellten. Wer seine Bücher im Internet kauft, beraubt sich nun einmal der Gelegenheit, mit seinem Buchhändler über interessante Neuerscheinungen zu plaudern oder die Ergebnisse der letzten Stadtratswahl zu diskutieren.

In diesem Sinne mag eine ehrliche Ursachensuche unbequem, vielleicht sogar ängstigend sein. Doch schützt sie uns davor, am falschen Punkt anzusetzen und unnötig mit unserer Behinderung zu hadern. Sie mag uns Wege zu völlig anderen, konstruktiven Lösungsansätzen eröffnen, so dass sich die Mühe lohnen dürfte. Im übrigen werden wir merken, dass auch der andere seine liebe Not mit dem Kontakt haben kann und wir nicht immer das Problem bei uns selbst suchen müssen.

Unmittelbare Auswirkungen der Sehschädigung

Natürlich bleibt der völlige oder teilweise Verlust des Sehvermögens nicht ohne Wirkung auf unsere Möglichkeiten, Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen und zu gestalten. Wir müssen ein gerüttelt Maß an Geschicklichkeit und Kompetenz entwickeln, das Fehlende auszugleichen, unsere Wahrnehmung zu schärfen, uns zu artikulieren und unseren Kontaktpartnern zu verdeutlichen, was wir von ihnen brauchen.

Sehende sind gewohnt, sich bei ihrer sozialen Wahrnehmung in erster Linie auf ihre optischen Eindrücke zu verlassen (was allerdings äußerst trügerisch sein kann). Vor allem beim Kennen lernen und bei der Kontaktaufnahme spielt das Sehen eine große Rolle und ist nicht leicht zu ersetzen: Wie etwa suche ich mir in der Disco jemanden heraus, den ich gern ansprechen würde? Wie bekomme ich mit, wenn jemand zu mir Kontakt sucht (mir einen Blick zuwirft, mir zuzwinkert, mich anlächelt etc.)? Wie finde ich auf einer größeren Party denjenigen, mit dem ich gern sprechen würde? Wie erfasse ich, ob er gerade mit etwas anderem beschäftigt ist? Wie kann ich seine momentane Befindlichkeit einschätzen? Wie kann ich sicher sein, dass ich seine Äußerungen richtig einschätze?

Was Sehenden (zu Recht oder Unrecht) meist selbstverständlich erscheint, kann für uns schwierig sein. Missverständnisse oder Fehlinterpretationen von Situationen sind nicht immer zu vermeiden. So geschah es mir selbst neulich, dass ich bei einem Rundfunkinterview die freundliche Begrüßung meines Interviewers fälschlicherweise auf mich bezog und mit einem herzlichen "Grüß Gott" antwortete. Bei ihm löste das Heiterkeit und den spontanen Ausruf aus: "Das geht ja gut los." Was ich wohl fehlgedeutet hatte, war, dass er im Rahmen seiner Anmoderation nicht mich, sondern die Hörerschaft gemeint hatte - hätte ich gesehen, wohin er schaute, wäre das vermutlich nicht passiert. Mir war mein Fauxpas etwas peinlich, doch zum Glück konnten wir von Herzen darüber lachen und entspannt mit meinem Irrtum umgehen.

Eventuelle Missbildungen der Augen sowie manchmal eine gewisse Verarmung von Mimik und Gestik können sehende Gesprächspartner ebenso irritieren wie behinderungsspezifische Verhaltensbesonderheiten, die sich bei einem Teil der Betroffenen herausbilden und als "Blindismen" bezeichnet werden. Inwieweit blinde Menschen sich bemühen sollten, solche Verhaltensweisen abzubauen, wird kontrovers diskutiert. Eine gewisse Selbstdisziplin erscheint mir notwendig und im Kontakt hilfreich. So ist es mir persönlich z. B. wichtig, meinen Gesprächspartner "anzuschauen", mich ihm also durch Kopfhaltung und Blickrichtung zuzuwenden, statt einfach irgendwohin zu "schauen". Ich bekomme oft die Rückmeldung, dass dieses Verhalten als ausgesprochen angenehm empfunden wird.

Sehschädigung als Stigma

Behinderung ist eine soziale Konstruktion, entsteht also nicht allein aus unserer organischen Schädigung, sondern auch aus deren Benennung und Bewertung durch andere Menschen (sog. sekundäre Schädigungsfolgen).

Zum Glück geht nicht alles schief, und je mehr in unserer Gesellschaft Inklusion zur gelebten Selbstverständlichkeit wird (wofür noch viel zu tun ist), desto eher dürfte der Umgang zwischen Sehenden und Sehgeschädigten gelingen. Doch können nach wie vor unzureichendes Wissen, stereotype Vorstellungen, Vorurteile und unbewusste Konnotationen Sehender einen gelingenden Kontakt weit mehr erschweren als die Sehbehinderung oder Blindheit selbst. An anderer Stelle habe ich Stigmatisierungsprozesse, ihre Folgen und Möglichkeiten der Bewältigung eingehend untersucht (Glofke-Schulz 2007), so dass ich hier auf eine ausführlichere Darstellung verzichten kann. Außerdem bin ich mir sicher, dass jede(r) unter uns über eine Vielzahl einschlägiger Erfahrungen verfügt: Immer wieder sind wir konfrontiert mit Unbehagen und Befangenheit, Mitleid, übertriebener Bewunderung, der Zuschreibung von Andersartigkeit (verschiedenste Eigenschaften werden uns angedichtet) oder dem Bedürfnis nach sozialer Distanz einerseits, Übergriffigkeit und Neugier andererseits. Nicht selten fühlen wir uns auf unsere Behinderung reduziert, die dann zum zentralen und vermeintlich wichtigsten Merkmal unserer Person wird (da bin ich eben "die Blinde" weit mehr als eine Frau, Sportlerin, Musikerin o. ä.). Da möchte ich mich längst über ein anderes Thema unterhalten und kann meinen Gesprächspartner nur schwer davon abbringen, mich weiter über mein Handicap auszufragen. Da muss ich erleben, wie nicht mit mir, sondern über mich gesprochen wird ("Was möchte Ihre Frau trinken?"). Da werden Dinge im Zusammenhang mit der Behinderung interpretiert, die mit ihr nichts zu tun haben (wenn etwa beruflicher Erfolg als "Überkompensation" der Behinderung gedeutet wird). Die Reihe der Beispiele ließe sich fortsetzen. Der Ehrlichkeit halber müssen wir uns allerdings eingestehen, dass auch wir selbst keine besseren Menschen und nicht frei von Voreingenommenheiten sind - und sei es nur die unüberprüfte Überzeugung, unser Gesprächspartner werde uns sicherlich mit Vorurteilen begegnen (was so sein kann, aber nicht sein muss).

Normalität wagen

Angesichts dieser Situation benötigen wir eine Menge Selbstvertrauen, Intelligenz, Kreativität und Humor, um Berührungsängsten zu begegnen und befriedigende Beziehungen aufzubauen. Nicht ganz zu Unrecht mag der Eindruck entstanden sein, wieder einmal müssten wir - wie in anderen Lebensbereichen auch - mehr leisten als unsere nicht behinderten Mitmenschen. Ein solcher Mehraufwand kostet Kraft, und so wählen manche den Weg des Rückzugs (zumindest aus der Welt der Sehenden). Stigmatisierungserfahrungen können sich zudem negativ auf das Selbstwert- und Identitätserleben auswirken.

Andererseits scheinen sich manche von uns einigermaßen selbstverständlich und ohne allzu große Mühe in ihrem sozialen Umfeld zu bewegen, fühlen sich integriert und geliebt. Somit stellt sich die Frage nach Perspektiven und Gestaltungsspielräumen. Jenseits konkreter Verhaltensstrategien (derer wir zweifellos bedürfen) möchte ich hier auf die Frage des Selbstverständnisses und der eigenen inneren Haltung eingehen. Damit will ich nicht zur längst veralteten individuozentrischen Sicht zurückkehren, also die alleinige Verantwortung wieder einmal uns Behinderten zuschieben. Doch indem zwischenmenschliche Beziehung ein intersubjektives Geschehen ist, hat jedes der beteiligten Subjekte durch die transportierte innere Haltung in gewissem Maße Einfluss auf das Interaktionsgeschehen und den Interaktionspartner. Dies wissen wir spätestens, seit die Neurobiologie die sog. "Spiegelneuronen" entdeckt hat: Ist bei mir eine bestimmte Hirnregion aktiv, wird die entsprechende Region auch im Gehirn meines Interaktionspartners aktiviert. Darin liegt unsere Chance.

In Abwandlung eines Satzes von Mahatma Gandhi ist meine These: Wir müssen die Veränderung sein, die wir in der Beziehung sehen wollen. Das bedeutet: Je mehr wir innerlich mit uns selbst, unserer Behinderung oder anderen Aspekten unseres Lebens hadern, je weniger wir darauf vertrauen, für andere attraktiv und liebenswert zu sein, desto geringer werden die Aussichten auf eine erfüllende zwischenmenschliche Begegnung auf Augenhöhe. Je selbstverständlicher und sicherer wir uns umgekehrt unseres Wertes als Mensch und als Mann bzw. Frau gewiss sind, desto weniger Ängste und Zweifel tragen wir in den Kontakt hinein. Natürlich gibt es unverbesserliche Stigmatisierer, von denen wir uns nach Möglichkeit fernhalten werden, sofern wir nicht unsere Seele verkaufen und uns selbst um einiger (vermeintlicher) "Streicheleinheiten" willen erniedrigen wollen. Doch auf die meisten Menschen werden unser Selbstvertrauen, unsere Selbstachtung und Offenheit positive Wirkung ausüben.

Im übrigen gehört aus meiner Sicht zu einem Leben in Würde und Selbstbestimmung auch die innere Freiheit, sich nicht unhinterfragt gängigen Geselligkeitsnormen anzupassen: Nicht jede(r) ist ein Partylöwe oder fühlt sich in größeren Menschenansammlungen wohl. Das muss auch nicht sein. Gerade Sehgeschädigte empfinden nach meiner Erfahrung Geselligkeiten in kleinerem Rahmen oft als angenehmer und entspannter. Außerdem mag sich im Laufe des Älterwerdens das Kontaktbedürfnis ändern, mögen Zeiten der Stille häufiger gesucht und als wohltuend erlebt werden. Dies ist kein resignativer Rückzug, der uns zu Außenseitern machen würde.

Erlauben wir uns also, uns so anzunehmen, wie wir sind. Tragen wir in die Begegnung die Normalität hinein, die wir uns von unserem Interaktionspartner wünschen - Wunder werden wir damit zwar nicht bewirken, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit Türen öffnen und den Umgang miteinander wesentlich erleichtern.

Weiterführende Literatur:

Glofke-Schulz, Eva-M.: Löwin im Dschungel. Blinde und sehbehinderte Menschen zwischen Stigma und Selbstwerdung (Psychosozial-Verlag, Gießen 2007, als Hörbuch beim DVBS erhältlich)

Zur Autorin

Dr. Eva-Maria Glofke-Schulz, geboren 1958, arbeitet Seit 1984 als Psychologin. seit 1999 ist sie als psychologische Psychotherapeutin, Supervisorin und Autorin in eigener Praxis in Rosenheim tätig. Seit vielen Jahren ist sie infolge Retinitis Pigmentosa erblindet, seit 1980 in der Selbsthilfe aktiv.