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Der Ret-Chip ist ein riesiger Schritt nach vorn
Der Ret-Chip ist ein riesiger Schritt nach vorn Ein Gespräch mit Professor Bernhard Weber, Institut für Humangenetik der Universität Regensburg
Wie viele Gene wurden bislang als Ursache erblicher Netzhautleiden identifiziert?
Bis heute wurden etwa 140 Gene für Netzhauterkrankungen identifiziert, wobei sich darunter auch Gene befinden, die für sehr seltene Erkrankungen verantwortlich sind. Für die klinische Praxis sind nicht alle 140 Krankheits-Gene von gleicher Relevanz.
Wie viele und welche Gene sind bedeutsam?
Von großer Bedeutung sind natürlich jene Gene, die zu einer der verschiedenen Erkrankungen aus dem Formenkreis der Retinitis Pigmentosa führen. Dabei handelt es sich um etwa 40 Gene. Die Häufigkeit der Retinitis Pigmentosa beträgt 1 zu 4.000 in der Bevölkerung, also eines von 4000 Neugeborenen ist betroffen.
Sie haben insgesamt 72 Gene auf dem Ret-Chip. Welche sind das?
Der Chip deckt die große Gruppe der Retinitis Pigmentosa-Erkrankungen ab. Hinzu kommen Erkrankungen der zentralen Netzhaut. Enthalten ist beispielsweise das sogenannte ABCA4 Gen, das den Morbus Stargardt auslöst, eine recht häufige juvenile Makuladegeneration. Der Chip umfasst auch eine Gruppe von syndromalen Genen, also Gene, die nicht nur eine Netzhautdegeneration, sondern auch klinische Manifestationen in anderen Organsystemen verursachen. Das sind Gene, die beispielsweise für das Usher-Syndrom oder das Bardet-Biedl-Syndrom verantwortlich sind.
Oft spielen ja nicht nur verschiedene Gene eine Rolle, sondern auch verschiedene Mutationen in diesen Genen. Wie sieht es damit bei der Retinitis Pigmentosa aus?
Für die Retinitis Pigmentosa wie auch allgemein für Netzhautdegenerationen gilt, dass Mutationen in einem verantwortlichen Gen praktisch an jeder beliebigen Stelle auftreten können. Sehr häufig findet man sogar nur eine sogenannte familienspezifische Mutation. Das heißt, die Mutation tritt in einem Krankheitsgen an einer ganz dezidierten Stelle auf, die nur in einer Familie vorkommt.
Wie lassen sich verschiedene Mutationen mit Hilfe des Ret-Chip identifizieren?
Wenn ich eine Analyse Methode wähle, die nur abfragt was bereits bekannt ist, dann kann ich auch nur das finden, was bekannt ist. Wir wollen natürlich alle möglichen Veränderungen aufspüren, die in einem Krankheits-Gen auftreten können, also auch neue Veränderungen, die man heute noch nicht kennt. Darum haben wir für den Ret-Chip die Technologie eines sogenannten Resequenzier-Chips gewählt. Mit ihm können wir somit alle Mutationen, neue und auch bekannte, identifizieren.
Wie funktioniert das?
Auf dem Chip sind Referenz-Sequenzen jener Gene aufgetragen, die bei hereditären Netzhautleiden mutiert sein können. Diese Referenz-Sequenzen dienen als Matrix für die DNA des Patienten. Die Patienten-DNA lagert sich an die Matrix-DNA auf dem Chip in jenen Bereichen an, die identische Sequenzen besitzen. Wir können dann auf den Baustein genau erkennen und auch beurteilen, ob die DNA des Patienten mutiert ist. Dann kennen wir auch in vielen Fällen die Konsequenz auf dem Niveau des Eiweißes. Dann erst können wir beurteilen, ob diese Veränderung wirklich krankheitsrelevant ist. Die Interpretation dieser Ergebnisse wird natürlich nicht in allen Fällen einfach werden.
Wie läuft die Untersuchung mit Hilfe des Ret-Chips konkret ab?
Um die Chip Analyse durchzuführen, sind pro Patient etwa 1.400 Einzelanalysen erforderlich. Das ist technisch sicher eine Herausforderung und benötigt eine entsprechende Infrastruktur und das nötige Know How. Wir haben uns darum hier an der Universität Regensburg auf diese Diagnostik spezialisiert. Wir arbeiten dabei auch mit einer hier angesiedelten Biotech-Firma zusammen, die über die erforderliche Erfahrung verfügt und die Teile dieser Analyse übernehmen wird.
Mit welchen Kliniken arbeiten Sie zusammen?
Wir werden mit mehreren Zentren in ganz Deutschland zusammenarbeiten, wo Augenärzte mit Humangenetikern kooperieren und eine integrierte Versorgung anbieten können. Wir planen mindestens drei, eventuell auch vier Anlaufstellen für die Patienten. Sicher sind schon jetzt im Boot Zentren in Bonn-Siegburg, Berlin, Tübingen, Hamburg und Regensburg. Da wir eine Diagnostik anbieten, die es in diesem Umfang bislang noch nicht gab, besteht sehr viel Erklärungsbedarf. Wir führen natürlich auch zunächst eine Studie durch. Auch wir müssen noch lernen, wie wir mit diesem Chip und mit diesen Informationen umgehen können. Dies ist nur in einer sehr klar strukturierten Gesamtsituation möglich. Jeder Patient muss bei einem dieser Zentren zunächst klinisch untersucht werden, die entsprechende Aufklärung kommt hinzu. Erst dann folgt die Diagnostik. Dazu wird Blut entnommen, das zu uns nach Regensburg geschickt wird. Hier wird dann das Erbgut isoliert und die Untersuchung entsprechend durchgeführt. Anschließend werden dem Patienten die Ergebnisse der Untersuchung wiederum in einer humangenetischen Beratung mitgeteilt.
Man kann ja schon heute eine betroffene Familie humangenetisch untersuchen und beraten. Welchen Zusatznutzen haben Patienten durch den Chip?
Beispielsweise haben wir sowohl bei den autosomal-dominanten also auch bei den rezessiven Formen der Retinitis Pigmentosa sehr viele Gene, die der Erkrankung eines Patienten zugrunde liegen können. Bisher lief es konventionell in der Diagnostik so, dass man jene Gene zunächst untersucht hat, deren ursächliche Beteiligung am wahrscheinlichsten ist und die man kennt. Bei diesem Vorgehen findet man die genetische Ursache häufig nur in 10 bis 20 Prozent der Fälle. Das bedeutet, dass man in 80 bis 90 Prozent der Fälle dem Patienten keine Ergebnisse und damit keine weiteren Informationen anbieten kann. Das ist eine sehr unbefriedigende Situation. Die neue Technologie erlaubt uns nun, dass wir eine sehr große Menge an Genen gleichzeitig testen können. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine Veränderung und damit die Ursache der Erkrankung nachweisen können. Das ist natürlich ein riesiger Schritt nach vorn. Gleichwohl werden wir sicherlich nicht bei allen Patienten die verantwortliche Mutation diagnostizieren können. Denn die 72 Gene auf dem Ret-Chip stellen noch längst nicht alle Krankheits-Gene dar, die beispielsweise eine Retinitis Pigmentosa verursachen können.
Kann der Chip helfen, diese Lücken zu füllen?
Ja, ich denke, es ist ein weiterer Vorteil des Chips, dass wir jetzt auch solche Patienten bzw. Familien herausfiltern können, die in den bisher bekannten Genen keine Mutation oder mit großer Wahrscheinlichkeit keine Mutation tragen. Die Chance wächst, dass wir damit neue, bisher nicht bekannte Gene finden.
Kommen wir zu den möglichen Problemen. Welche erwarten Sie?
Bislang wurden noch keine Untersuchungen in diesem Umfang, d.h. mit so vielen Genen in einer einzigen Untersuchung, gemacht. Wir werden dabei natürlich sehr viele Informationen über die Gensequenzen bekommen. Je mehr ich untersuche, desto häufiger werde ich auch auf Stellen stoßen, die verändert sind, sogenannte polymorphe Veränderungen, aber vermutlich nichts mit einer Krankheit zu tun haben. Hier fehlen Erfahrungen, wir müssen sehen, wie viele variable Stellen wir finden.
Was nutzt eine bessere Diagnose wirklich? Denn Sie haben ja in den meisten Fällen keine Therapie anzubieten.
Richtig. Eine Gen-Therapie oder auch eine Behandlung, die auf eine spezifische Gen-Ursache bezogen ist, gibt es heute noch nicht. Aber es ist auch klar, dass solche Therapien mit großer Wahrscheinlichkeit in der Zukunft entwickelt werden. In England ist beispielsweise eine Phase-I-Gentherapie-Studie bei der Leberschen Kongenitalen Amaurose angelaufen. Einen klaren Nutzen haben auch Patienten in kleinen Familien, in denen wir sehr häufig nur einen Betroffenen haben. Dann lautet die Frage: Handelt es sich hier tatsächlich um eine hereditäre Erkrankung oder könnte das auch ein sporadischer Fall sein oder eventuell sogar eine Neumutation? Wenn in solchen Fällen ein Patient wissen will, wie hoch das Risiko ist, dass seine Kinder die Krankheit bekommen, dann müssen wir natürlich zunächst wissen, wie die Erkrankung vererbt wird. Abhängig davon, ob der Erbgang autosomal-rezessiv, autosomal-dominant oder gebunden an die Geschlechtschromosomen vererbt wird, variiert natürlich das Wiederholungsrisiko für die Nachkommen.
Erleichert die bessere Diagnostik auch die Prognose bei einer Erkrankung?
Was die Aussagen zur Prognose betrifft, werden diese in der großen Mehrzahl der Fälle durch die genauere Diagnostik noch nicht verbessert. Aber beispielsweise können wir bei Morbus Stargardt aufgrund der Mutation sehen, ob das entsprechende Protein überhaupt noch gebildet wird. Ist dies nicht der Fall, dann wissen wir, dass es ein schwererer Verlauf sein wird. Diagnostizieren wir demgegenüber eine Veränderung, die eine Aktivität des Proteins zumindest teilweise zulässt, dann wird mit größerer Wahrscheinlichkeit der Verlauf eher weniger schwer werden. Aber wir können natürlich nicht den Zeitpunkt vorhersagen, an dem möglicherweise eine Verschlechterung eintreten wird. Denn hier spielen auch noch äußere Umstände eine wichtige Rolle.
Der Chip wird Mitte Juli verfügbar sein. Wie geht es danach konkret weiter?
Dann beginnt zunächst eine Testphase des Chips. Wir müssen prüfen, ob der Chip so funktioniert, wie wir uns das vorstellen. Es werden also erstmals Probeläufe stattfinden. Hierbei werden wir nur das Erbgut ganz bestimmter Patienten testen. Das ist also noch keine Routinediagnostik, sondern eine Art klinische Prüfung.
Steht der Preis der Untersuchung bereits fest?
Der steht noch nicht fest. Das liegt schlichtweg daran, dass wir den gesamten Umfang der Analyse momentan noch nicht in seiner Gänze abschätzen können. Aber eines steht schon fest: Würde man diese 72 Gene mit herkömmlichen Methoden untersuchen, würde dies pro Patient an die 100.000 Euro kosten. Das ist natürlich unbezahlbar. Für die Untersuchung mit dem Chip rechne ich mit einer Größenordnung von etwa 3.000 – 4.000 Euro, wenn eine komplette Analyse aller 72 Gene erforderlich ist. Das ist quasi ein Quantensprung nach unten. Hinzu kommt, dass wir diese Analyse nicht in jedem Fall vollständig machen müssen. Wir müssen nicht alle 72 Gene in jedem Patienten untersuchen. Möglich ist sicherlich eine Vorauswahl auf Grund der klinischen Symptomatik und auf Grund der Vorbesprechungen. Das wird die Kosten weiter reduzieren.
Werden die Kassen die Kosten übernehmen?
Ja. Wenn die Untersuchung von einem Arzt indiziert und angefordert wird, müssen die Kassen das natürlich übernehmen.