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Die Blindheit meines Sohnes ist (nicht) meine Schuld

Eine Frau mit kurzen Haaren, dunkler Hose und dunkler Jacke steht draußen an eine menschengroße Rabenfigur gelehnt und lächelt
Bärbel Ott unterwegs

Bärbel war im Sommerurlaub, merkte dass die Sonne sie stark blendete, „aber wen blendet die Sonne nicht“, dachte sie. Also bekam sie immer wieder eine neue Brille, zur Augenärztin ging sie aber fünf Jahre nicht. Dann begann die Nachtblindheit und ihre Befürchtung wurde bestätigt. Retinitis pigmentosa lautete die Diagnose, eine genetisch vererbte Krankheit, bei der die Sehzellen in der Netzhaut langsam absterben.

Blindheit in der Nacht

Sie hat noch 50 Prozent Sehvermögen. Wenn sie in der Dämmerung unterwegs ist, muss sie aufpassen, sich nicht zu stoßen oder zu stolpern. Mitten in der Stadt, wo Laternen den Weg ausleuchten, ist das kein Problem, aber an anderer Stelle muss sie vorher genau planen und wachsam sein. Die RP lässt einige Patienten sehen wie durch einen Tunnel, andersherum haben viele Betroffene einen blinden Fleck mitten auf dem Auge. Bärbel muss ihren Kopf dahin drehen, wo sie fokussieren möchte.

„Ich habe einen super Verdrängungsmechanismus“

Eigentlich hätte es bis zur Feststellung der Retinitis nicht so lange gebraucht, Bärbel wusste, dass sie Trägerin des Gens ist. Sie vererbte es ihrem Sohn Manuel, bei dem die Krankheit vor 30 Jahren ausbrach. Bei ihr sollte es jedoch nicht zu einem starken Ausbruch kommen, sagten die Mediziner. So verpackte sie die Vorstellung, dass sie selbst erblinden könnte, in einer kleinen Box und verstaute sie in den Tiefen des Unterbewusstseins. Ihr Sohn war unterdessen nie viel draußen, mied Partys, obwohl er durchaus Freunde hatte. „Er war immer schon ein Einsiedler“, sagt Bärbel, dann überlegt sie, ob Manuels Verhalten vielleicht gar nichts mit seinem Charakter, sondern vielmehr mit der Nachtblindheit zu tun haben könnte. Doch damals verdrängte sie das alles, fragte nicht nach.

Von Schuldgefühlen gepeinigt

„Das werde ich bis heute nicht mehr los. Ich weiß, dass ich nichts dafürkann, das ist klar, aber trotzdem: Das tut einfach weh“. Sie wollte Manuels Erkrankung nicht wahrhaben, sich nicht damit auseinandersetzen. „Es wird schon“, war die Durchhalteparole. Immer wieder ist sie den Tränen nahe. Dabei sind Augenerkrankungen kein Weltuntergang, sie hätte sie sich bei der Selbsthilfe mit anderen vernetzen und Manuel viel Unterstützung anbieten können. Stattdessen redete sie sich ein, keine Zeit zu haben. „Das ist ja Quatsch, es tut mir heute alles sehr leid“. Vielleicht hätte sie ihn nicht auf eine normale Schule geschickt, das hätte ihm viel Leid erspart. Der Sohn bedauert, dass sie ihm nicht helfen konnte, weil sie sich nicht helfen ließ. Doch sie ging damals durch ein Coming-Out, trennte sich von ihrem Mann und beschäftigte sich mit ihrem eigenen Leben. Manuel ging seinen Weg allein.

Das Helfen hilft

Vor einiger Zeit ging sie schließlich zur Pro Retina, einer Selbsthilfevereinigung mit Regionalgruppen in ganz Deutschland. Sie meldete sich als Betroffene und Mutter, wollte anderen helfen. Und das Helfen half ihr selbst. Sie nennt ihr Ehrenamt: „Eine dritte Therapie“. Vor allem das Sprechen hilft. Sich zu öffnen und verwundbar zu machen, stößt einen Heilprozess an. In einem kleinen Stammtisch mit anderen Eltern und bei Gruppentreffen mit Betroffenen erzählt sie von ihrer Scham, aber auch von ihrem Lernprozess. Bärbel wird herzlich willkommen geheißen, ihre Beiträge dankbar aufgenommen. Sie ist beeindruckt von dem, was die anderen tagtäglich leisten.

Ein Knoten platzt: Stolz statt Mitleid

„Ich sehe meinen Sohn jetzt auch mit ganz anderen Augen“. Heute versteht sie, dass sie das Problem hatte, nicht er. Sie tat sich schwer mit der Erkrankung und entwickelte toxische Gefühle von Mitleid und Schuld. Manuel hingegen war früh mit sich im Reinen, ging selbstbestimmt seinen Weg. Er wechselte auf eine Blindenschule, holte sein Abitur nach und studierte im Anschluss Sozial- und Heilpädagogik. Er arbeitet mit Schwerstbehinderten bei der Caritas und hat so seine Berufung gefunden. Sie ist unendlich Stolz auf ihn und sagt ihm das jetzt auch. „Ich könnte die ganze Welt umarmen, was er so leistet“.

Kommunikation ist der Schlüssel

Mit jedem Gespräch wird sie offener und lässt mehr Gefühle zu. Alles begann damit, dass sie sich aufs Sofa setzten und sie Manuel von seiner Kindheit und Jugend erzählte. Ein Stein kam ins Rollen und sie bat ihn, ihr zu erklären, wie er die Welt sieht. Inzwischen treffen sie sich wieder regelmäßiger. Er geht mit ihr und der Oma spazieren im Dunkeln, dann führt er Mutter und Oma. Sie lachen und haben Spaß zusammen. Er ist jetzt auch auf seine Mama und ihr Engagement bei der Pro Retina stolz. Bärbels Gruppe fragt sie gespannt, wie die Treffen verlaufen. Manuel wird immer offener, weil sie offener wird. „Ich glaube, wir haben uns gefunden und das ist toll. Aber der Weg ist noch lange nicht zu Ende“