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Geerbt. Vererbt. - ein Erfahrunsgbericht
Die Sehstörung in der Generationenfolge
Ein Erfahrungsbericht von Daniela Wüstenhagen
Daniela Wüstenhagen ist Chemieingenieurin und arbeitet in Teilzeit in diesem Beruf. Sie hat Morbus Best und lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern im Rheinland. Die Kinder sind ebenfalls betroffen. Manchmal sucht Daniela Wüstenhagen Sarahs* Blick vergebens. Dann umkreist sie das Gesicht ihrer sechsjährigen Tochter, bis deren Augen im Blickfeld der Mutter erscheinen. Was Sarah in dem Moment von ihr sieht, weiß sie nicht so genau, denn beide haben die Netzhauterkrankung, bei der die Mitte verschwindet, aber, dank so kluger wie unbewusster Rechenvorgänge im Gehirn, ergänzt wird. Sie sehen beide ein vollständiges Bild, das aber tückischerweise Teile der Realität nicht abbildet.
Daniela Wüstenhagen sieht den Stoff des Sofas, auf dem Sarah sitzt. Mit ein paar kleinen Bewegungen von Kopf und Augen findet sie dann auch, was sie sehen will: das Strahlen im Gesicht ihres Kindes. Meistens kann sie dann mitstrahlen. Daniela Wüstenhagen ist ein lächelnder Mensch. Aber manchmal stürzt Sarahs Freude sie in dieses Gefühlschaos, das sie seit einigen Jahren begleitet: Sie hat Sarah und Benjamin* die Augenkrankheit vererbt, so wie sie sie selbst von ihrer Mutter geerbt hat.
„Ich selbst lebe ein lebenswertes Leben, meine Mutter auch. Dieses Leben will und kann ich weitergeben.“
Als sie sich mit ihrem Mann für Kinder entschied, war Daniela Wüstenhagen sehr sicher: „Ich selbst lebe ein lebenswertes Leben, meine Mutter auch. Dieses Leben will und kann ich weitergeben.“ Als dann aber, während sie ihr zweites Kind stillte, ihre Sehfähigkeit rapide abnahm – eine Entwicklung, die sie von ihrer Mutter nicht kannte – kamen ihr Zweifel. Mutet sie den Kindern zu viel zu? Und als vor ein paar Tagen Benjamin vor seinem Schulheft saß und sagte „Ich kann die Linien nicht erkennen!“, kroch wieder dieses eklige Gefühl in ihr hoch, gemischt aus Schuld, Trauer, Trotz und Mitleid. Dieses Gefühl trägt ein Verbot in sich: Du darfst die Kinder nicht spüren lassen, in welchem seelischen Chaos Du als Mutter steckst! Mit der eigenen Sehschwäche zu leben, ist nicht so schwer. Aber sie bei den Kindern wahrzunehmen, ist hart. Dann klettert Sarah auf ihren Schoß, Benjamin spielt mit dem Familienhund Ricky. Sie planen gemeinsam eine Bergwanderung in den nächsten Ferien.
Familienleben! Nie wollte Daniela Wüstenhagen darauf verzichten. Sie können doch so viel zusammen erleben: schwimmen, Trampolin springen, Gitarre spielen, knuddeln, lachen. Ihre Erfahrungen auf der Gefühlsachterbahn setzt sie in den Beratungen ein: „Als Mutter mit Morbus Best kann ich nachfühlen, was Eltern durch machen, die mit einer Netzhauterkrankung ihrer Kinder leben. Ich kann aber auch die Situation der Kinder nachempfinden, was es heißt, wenn das Sehen schlechter wird. Ich rate zum Beispiel dazu, die Kinder nicht dauernd zu fragen, was sie gerade sehen. Man kann darauf vertrauen, dass sie ihre eigenen Strategien mit den Sehstörungen finden.“ Außerdem sei es wichtig, die Lehrer von vornherein zu informieren, damit sie angemessen auf die
Kinder eingehen.
Morbus Best wird mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit vererbt. „Wir haben unsere Chancen voll ausgenutzt“, sagt Daniela Wüstenhagen. Während ihre Mutter noch Auto fährt, hat Daniela das schon mit Mitte 30 aufgegeben. „Meine Angst, jemanden zu gefährden, war zu groß.“ So fährt sie zu ihrer Arbeit an zwei Tagen in der Woche mit dem Zug, geht zu Fuß zum Bahnhof. Ihre Mutter dagegen kann es noch vertreten, Auto zu fahren, vor allem um ihrer Tochter möglichst oft zu helfen.
„Man kann darauf vertrauen, dass Kinder ihre eigenen Strategien mit den Sehstörungen finden.“
Thomas Wüstenhagen, Danielas Mann, spricht selten über die Einschränkungen, die die Netzhautstörung für die Familie mit sich bringt. Natürlich: Er muss alle Autofahrten übernehmen, schaut manchmal abends über die Hausaufgaben der Kinder, wenn Daniela unsicher ist, ob sie eine Kleinigkeit übersehen hat. Sein Chef weiß auch Bescheid: Thomas Wüstenhagen kann Gleitzeit in Anspruch nehmen, wenn er einmal dringend zu Hause gebraucht wird. Er ist seit 20 Jahren mit Daniela zusammen. Ihre Augen gehören dazu. Was muss man groß darüber reden? Nur wenn sie in den Ferien in den Bergen sind, möchte er mindestens einmal eine große Tour allein machen, einen anstrengenden Aufstieg, einen Gipfel besteigen. In seinem Tempo, ohne die Sorge, Daniela könnte sich durch einen Fehltritt verletzen. Diese kleine Freiheit braucht Thomas. „Erst so eine Gipfeltour macht den Urlaub zum Urlaub.“