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Grenzen der Beratung in der Selbsthilfe

Aus dem Schwerpunkt "Depression bei Sehverlust", Retina aktuell Nr. 150 (04/2018)
Von Dr. phil. Rainald von Gizycki

Es war bald nach der Gründung unserer Vereinigung, damals noch ohne digitale Medien, ohne Geschäftsstelle, ohne Arbeitskreise oder Schulungsseminare. Zwischen beruflichem Stress und Kindergeschrei zu Hause war ich auf mich selbst gestellt, beantwortete die drängenden Fragen der Betroffenen nach bestem Wissen.

Einmal, ich sang gerade meinen Kindern etwas vor, klingelte wieder das Telefon. Ich sang schnell zu Ende und nahm ab (das Folgende versuche ich aus meiner Erinnerung zu rekonstruieren). Am anderen Ende war eine mir bekannte weibliche Stimme, die wieder anonym blieb. Sie begann das Gespräch dort, wo sie beim letzten Anruf aufgehört hatte. Sie habe kleine Kinder, sei an RP erkrankt und nachtblind. Ihr Mann kümmere sich nicht um sie und sie käme mit dem Haushalt nicht mehr zurecht. Sie fragte mich, was sie tun solle. Das Leben habe doch keinen Sinn, wenn sie bald die Kinder nicht mehr sehen, wenn sie ihnen nicht helfen und abends nicht mehr ausgehen könne. Das Leben ende ja ohnehin bald im Dunkeln und werde dann vorbei sein. Dann ging sie auf mich ein. Sie wollte von mir wissen, wie ich es denn aushielte, wie ich ohne Licht leben könne und was ich denn täte gegen Depression und Sehverlust? Ich hoffte, noch kurz zu meinen Kindern gehen zu können und antwortete rational: Mein Leben sei vielfältig mit Kindern und Familie, wie bei ihr. Doch lebte ich nicht ohne Licht, sondern sonnte mich so viel wie möglich und genösse das noch vorhandene Sehvermögen. Im Übrigen werde die Forschung uns beiden bald eine Therapie ermöglichen, davon sei ich überzeugt und dazu könnten wir beide vielfach beitragen. Depression? Was sei das denn? Wie äußere sich das denn bei ihr konkret?

Da war ich wohl völlig unprofessionell vorgegangen. Es war wie der Auslöser eines inneren Schalters. Sie änderte ihre Stimme, fing an wechselnd zu flüstern, zu weinen und hilflos zu schluchzen. Das sei ja, was ihr auch die Ärzte immer erzählten und was ihr im täglichen Leben überhaupt nicht helfe. Sie liege oft stundenlang antriebslos und tagträumend da, halte sich für überflüssig und überfordert durch die Kinder und habe nachts Albträume, in denen sie am Ende sterbe. In ihrer Küche habe sie hochdosierte Schlaftabletten versteckt, die jetzt neben ihr lägen.

Ich wurde hellwach, ich fühlte, dass sie es ernst meinte und vergaß meine Kinder. Was sollte ich tun? Konnte ich überhaupt etwas tun oder würde ich die offensichtliche Suizid-situation nur verschlimmern? Sollte ich die Polizei benachrichtigen? Aber wie, wenn ich keine Adresse hatte? Ich wurde selbst emotional: Auch meine Zukunft sei durch die RP gefährdet und die Ungewissheit mache mir zu schaffen. Aber das Glas würde ich eben halb voll und nicht halb leer sehen und ihre schöne Stadt hätte mir schon als Student Freude bereitet. Warum könne sie nicht mit ihrem Mann und den Kindern Unternehmungen dort und in der schönen Umgebung vornehmen? Sie könne mit Gleichbetroffenen Kontakt aufnehmen, da könne ich gerne helfen. Es half nichts. Ich hatte das Gefühl daneben zu liegen, ihr Inneres nicht ansprechen zu können. Nach einigen Minuten des zögerlichen Redens und gegenseitigen Schweigens brach es wieder aus ihr heraus: Das hätte sie alles versucht, aber es interessiere sie wenig, ihren Mann schon gar nicht. Die Leere des Lebens sei nun mal durch die Erblindung unausweichlich und damit ihr Leben am Ende. Mitten im leisen Weinen legte sie auf.

Ich hörte nie wieder etwas von ihr. Das Gespräch wirkte noch lange nach. Es trug dazu bei, dass ich meinen Blick von der Forschungsperspektive hin zu psychologischen Fragestellungen und der Beratung Betroffener durch Betroffene (Peer-to-Peer) ausweitete. Daneben rückten soziale Aspekte und das Thema Hilfsmittel weiter in den Fokus der Vereinsarbeit.