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Helfen Sie zuerst sich selbst, damit Sie auch Anderen helfen können!

Ein Erfahrungsbericht von Verena Reichel

Das erste Mal begegnete ich meinem Mann im Jahr 2005. Ich weiß noch genau, dass meine Schwester ihn mir vorstellte und mich mehrmals darauf hinwies, „was für ein toller Mensch er doch sei.“ Nach unserer Hochzeit 2012 erinnerte sie mich daran, dass eines meiner „Gegenargumente“ gewesen sei, dass er doch „krank“ ist. Mein Mann leidet seit 2002 an Morbus Stargardt und hat aktuell noch 8% Sehrest. Nicht nur die Liebe macht also blind.

Seltsamerweise hat die Augenerkrankung in unserer Beziehung mehr eine „Nebenrolle“ eingenommen bzw. gehört eben einfach zu uns dazu. Sicherlich auch, weil mein Mann Thomas sich vor unserem Kennenlernen bereits mehrere Jahre mit der Krankheit auseinandersetzen konnte und mir erstaunlich „aufgeräumt“ erschien sowie selbstständig und zu meinem Erstaunen: Immer gut gelaunt….trotz dieses Schicksalsschlages?

Geholfen bei der Verarbeitung – die ehrlicherweise nie aufhört und „Arbeit“ ist hier auch im wörtlichen Sinne zu verstehen – hat ihm und letztendlich dann auch uns der Ansatz des Wiener Arztes und Neurologen Viktor Frankl. Dieser begründete die Logotherapie als sinnorientierte Beratungsform und überlebte als einziger seiner Familie den Holocaust. Über diese Zeit schrieb er das Buch „Trotzdem ja zum Leben sagen“. Mein Mann hat diesen Ansatz nach seiner Diagnose studiert und hilft seitdem als existenzanalytischer, psychologischer Berater sowohl im Wirtschaftskontext als auch beispielsweise bei der PRO RETINA Menschen, die sich die Sinnfrage stellen etwa ausgelöst durch eine schwere Erkrankung oder einen Schicksalsschlag.

Mich faszinierte dieser Ansatz und die dahinterstehende Haltung zum Leben und ich habe diese Ausbildung ebenfalls durchlaufen. Zunächst mehr, um mit meinen eigenen Themen und auch unseren gemeinsamen umzugehen. Aktuell berate ich unter Supervision über den neu entstandenen Arbeitskreis für Angehörige die „mitbetroffenen“ Ehepartner oder Familienmitglieder von Sehbehinderten. Ebenso geben mein Mann und ich einmal jährlich das Partnerseminar bei der PRO RETINA. In dieser Aufgabe finde ich große Erfüllung und sehe mich aber auch immer wieder erneut aufgefordert, mich mit unserer Situation und unserem Umgehen damit auseinanderzusetzen.

Soweit – so gut, könnte man nun denken…. 

Es folgten für uns jedoch weitere Schicksalsschläge, wie eine Krebserkrankung und in der Folge verlor Thomas sein rechtes Gehör und lebt seitdem mit einer weiteren Sinnesbeeinträchtigung. Das war für uns keine leichte Zeit und ich glaube bis heute, dass wir sie überstehen konnten, weil wir durch unseren Ausbildungshintergrund gelernt haben, miteinander zu reden. Trotzdem haben natürlich auch wir mal Meinungsverschiedenheiten und so manchen „Stolperstein“ im Alltag. Ein Schlüssel ist jedoch, immer darüber zu sprechen und den Anderen vor allem auch in seiner Not zu sehen und nicht z.B. in seiner Wut oder dem Angriff.

Schaue ich bei all dem mal auf mich, so gelingt mir die Balance zwischen Helfen und Überfürsorglichkeit noch immer nicht wirklich. Ebenso die Abgrenzung, wenn es auch mal um meine Kräfte geht. Thomas lebt sein Leben sehr selbstbestimmt und das ist ja auch das, was meine anfänglichen Zweifel, wie sich die Krankheit auf unsere Beziehung auswirken könnte, schnell zerstreut hat. Heute bin eher ich es, die sich um ihn Sorgen macht, wenn er eine seiner langen Wanderungen unternimmt oder Marathon läuft.

Dieser Angst versuche ich Vertrauen entgegenzusetzen, immerhin ist er bisher auch immer – wenn auch nicht immer unbeschadet – wieder gekommen. Aber natürlich möchte ich ihm seine Freiheit nicht durch meine Ängste nehmen und auch hier hilft es uns, darüber zu sprechen.

Ich glaube, dass die Augenerkrankung - oder auch die anderen Schicksalsschläge – uns aufgefordert haben, uns mit uns und auch bestimmten Lebensfragen auseinanderzusetzen, die für viele vielleicht erst im Alter auftauchen. Wenn sich jeder mit schwindenden Sinnen oder Kräften und Begrenzungen auseinandersetzen muss und auch von Dingen, Fähigkeiten oder Menschen Abschied nehmen muss. Begriffen habe ich auch, dass diese Prozesse nie „erledigt“ oder abgeschlossen sind, sondern oft auch unvermittelt wieder in einem „anderen Gewand“ daherkommen können und uns wieder zur Auseinandersetzung auffordern.

Beim Schreiben dieses Erfahrungsberichtes stelle ich (mal wieder) fest, dass ich doch mit meinen Gedanken, Ängsten und Sorgen sehr beim Anderen bin. Etwas, was ich auch im Austausch mit anderen Angehörigen immer wieder erlebe: Ganz natürlich dreht sich zunächst alles um die Belange des Betroffenen. Immerhin ist er ja in einer großen Not und auf unsere (meine) Hilfe angewiesen. Wie automatisch geht der Blick und die Aufmerksamkeit also vorrangig in diese Richtung. Doch genauso wichtig ist es für ein Miteinander „auf Augenhöhe“ sich als Angehöriger nicht selbst aus dem Blickfeld zu verlieren und gut für sich selbst und die eigenen Ressourcen (ohne schlechtes Gewissen) zu sorgen!

Ich möchte hier das viel zitierte Beispiel der Sicherheitsvorkehrungen im Flugzeug heranziehen: Beim Aufsetzen der Sauerstoffmaske heißt es immer: „Helfen Sie zuerst sich selbst, damit Sie auch Anderen helfen können.“

Wenn ich also über Sorge und die Erwartungen des Anderen im Zusammenleben mit einem Menschen – ob nun mit oder ohne Einschränkungen – mich selbst vergesse, kann ich keine gute Hilfe leisten. Hier hilft es auch nochmal für sich selbst hinzuschauen, ob diese Erwartungen wirklich vom Anderen oder doch eher von mir ausgehen?

Diese und viele weitere Aufgaben haben wir als „Mitbetroffene“ immer wieder zu bewältigen. Ich wehre mich beharrlich gegen den Begriff des „Nichtbetroffenen“. Eine Erkrankung, ein Schicksalsschlag, eine Einschränkung, die meinen Lebenspartner betrifft, hat unweigerlich auch einen großen Einfluss auf mein Leben.

Und…eine solche Diagnose machte zumindest mir auch deutlich, wie zerbrechlich unsere kleine (heile) Welt doch sein kann und wenn die Verarbeitung und das Schauen in die Abgründe, die sich da auftun können schon für einen Mensch allein zuviel sein können, so ist es auch oft noch herausfordernder im Zusammenleben mit einem Anderen, der sich vielleicht gerade in einem ganz anderen Stadium der Verarbeitung befindet….Tröstlich bleibt aber für mich, dass das Umgehen mit diesem Schicksalsschlag und allen damit entstehenden Emotionen auch etwas Verbindendes haben kann.