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„HERZAUGE“ macht Mut, zu eigenen Werten und Wünschen zu stehen

Buchcover Herzauge, schwarze Schrift auf rosanem Grund; ein gelbes Herz und Kreise in blau und petrol
Buchcover "Herzauge"

„HERZAUGE“ ist der sehr sprechende Titel des neuen Buches von PRO RETINA-Mitglied Lina Maria Pietras. Sie zeigt hierin anschaulich und eindringlich, wie man es gelingt, mehr auf die eigenen Bedürfnisse zu hören, als der Anerkennung von außen nachzueifern. Lina Maria, bei der als Kind eine genetische Netzhauterkrankung diagnostiziert wurde, geht heute mit nur vier Prozent Sehvermögen selbstbewusst und selbstbestimmt durchs Leben. Sie lebt Inklusion und hilft anderen als Coach, ebenfalls mehr auf die eigenen Bedürfnisse zu hören, als der Anerkennung von außen nachzueifern. Bis sie an diesen Punkt kam, hat sie zum Teil schmerzhafte Erfahrungen gemacht, die sie in dem Buch mit den Leserinnen und Lesern teilt. Menschen mit Seheinschränkung werden sich in vielen Schilderungen wiederfinden, augengesunde Leserinnen und Leser erhalten Einblicke in ein Leben mit nachlassender Sehkraft.

„Du kannst alles werden, was du willst.“ Diese Aussage hat Lina Maria Mut gemacht, Grenzen zu überschreiten. Sie hat sie ermutigt, trotz ihrer Netzhauterkrankung hochgesteckte Ziele zu verfolgen und immer wieder über sich hinauszuwachsen. Aber diese Aussage hatte auch eine Kehrseite: Sie führte dazu, dass Lina Maria es allen zeigen wollte, dass sie „trotzdem“ alles schaffen kann. „Jetzt erst recht“, lautete die Devise, nach der sie handelte.

Zu dieser Grenzenlosigkeit kam der Wunsch hinzu, dazuzugehören. Beides trug dazu bei, dass Lina Maria sich von sich selbst immer mehr entfernte. Sie passte sich an, ließ sich in Kategorien pressen. Sie bewertete sich, ihren Körper und alles, was sie tat, nach äußeren Bewertungskriterien. Sie beugte sich den äußeren Bewertungskriterien und dem damit verbundenen Druck, alles „richtig“ zu machen, um dazuzugehören.

Die Vorstellung, alles zu können, verbunden mit der Angst, nicht dazuzugehören, anders zu sein, führte dazu, dass sie Hilfen nicht annahm, obwohl sie diese eigentlich gebraucht hätte. Beispielsweise am Flughafen. Statt den angebotenen Service bei der Suche nach dem richtigen Gate zu nutzen, verpasste Lina Maria lieber den Anschlussflug.

Tatsächlich schien ihr der Erfolg lange Zeit Recht zu geben. Bis zwei Burn-Outs sie zu einer Kehrtwende zwangen. Sie erkannte: Sich an den Erwartungen der anderen zu orientieren ist einfach, bedeutet aber, dass man sich verbiegen muss. Stattdessen sollte man den eigenen Werten und Wünschen folgen. Dieser Weg ist zwar schwieriger, doch er führt zu Zufriedenheit, Authentizität und Glück. „Früher wollte ich ‚normal‘ sein und stets ein bisschen besser als andere, heute strebe ich nach Souveränität“, schreibt Lina Maria in HERZAUGE.

Den eigenen Werten und Wünschen zu folgen, sei, so Lina Maria, auch der erste Schritt zu Inklusion. Denn Antidiskriminierung, so ihre Überzeugung, funktioniert von innen nach außen: „Du beginnst bei dir. Dann, im zweiten Schritt, kannst du aktiv werden und anderen helfen, indem du deine Stimme gegen Ungerechtigkeiten erhebst.“ Bei Lina Maria bedeutete es, den sicheren Job aufzugeben und beruflich neue Wege zu gehen.

Portrait einer lächelnden Frau mit langem, blondem, gewellten Haar, braunen Augen, rotem Lippenstift und einem weißen Shirt.
Lina Maria Pietras

Lina Maria nimmt die Leserinnen und Leser mit auf eine erkenntnisreiche Reise. Viele Menschen mit einer Behinderung werden erkennen, dass sie mit ihren Gedanken und Erfahrungen, ihren Sorgen und Wünschen keineswegs allein sind. Dass auch andere hadern und bisweilen Umwege gehen müssen, um zu erkennen, wie sie ihr Leben mit Behinderung führen wollen.

Sehgesunden Menschen gewährt das Buch tiefe Einblicke in eine ihnen ansonsten verschlossene Lebenswirklichkeit. Sie erfahren, wie Menschen mit ihrer Sehbehinderung hadern. Wie sie mühsam Vertrauen entwickeln, um sich mitzuteilen, um Hilfe zu erbitten oder auch bisweilen abzulehnen. Denn für beides braucht es Mut.

Lina Maria Pietras hat die Kraft gefunden, sich klar auszudrücken. Nachdem sie als Kind und Jugendliche ihre Behinderung versteckt hat, spricht sie heute offen darüber. Und über ihre Wünsche und Erwartungen. Das hilft ihr – und den Menschen um sie herum, weil sie die Chance haben, Lina Maria auf Augenhöhe zu begegnen. Inklusion, so Lina Maria Pietras Erfahrung, ist „der Austausch über Bedürfnisse und ein gemeinsamer Konsens“.

‎Lina Maria Pietras. HERZAUGE: Warum du dich nur in dir selbst finden kannst. Rowohlt Taschenbuch; 1. Edition 2024, 224 Seiten.