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Lina Maria rennt – und zwar blind durchs Leben

Erfolgreiche Unternehmerin und Marathoni erfuhr als Kind von ihrem Augenleiden

Zwei junge Frauen in Laufkleidung stehen sich gegenüber un klatschen sich in die Hände. Im Hintrgrund eine Wand mit Graffiti.
Geschafft! Lina und ihre Laufbegleitung Anne-Birthe Foto: Alexandra Malinka

von Susanne Hölter

Lina Maria war neun Jahre alt, als sie beim Augenarzt eine niederschmetternde Diagnose erhielt: Sie wird erblinden. Die Zapfen-Stäbchen-Dystrophie ist eine voranschreitende Netzhauterkrankung. Lina Maria sieht alles unscharf, da hilft auch keine Brille mehr. Am Ende des Krankheitsverlaufs ist das Sehvermögen sehr, sehr gering. Bei Lina Maria sind es heute nur noch fünf Prozent von dem, was ein Normalsehender sieht.

Die Diagnose war ein Schock für die ahnungslose Familie, denn kein anderer von Eltern, Großeltern und Geschwistern hat diese vererbliche Krankheit. Sie ist nicht heilbar. Man kann sie noch nicht einmal lindern.

Es war „Der kleine Prinz“, den Linas Mutter ihrer jungen Tochter mit auf den Weg gab. Es ist das berühmteste Zitat aus der poetischen Geschichte von Antoine de Saint-Exupéry. Dort sagt der weise Fuchs zum kleinen Prinzen: „Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Außerdem sagte er: „Und vergesse nie, dass du zeitlebens für das verantwortlich bist, was du dir vertraut gemacht hast.“

Und Lina Maria machte sich vertraut, mit der Welt, die zunehmend unschärfer, verwaschener aussehen würde, sie übernahm Verantwortung für sich und machte sich auf den Weg als junges Mädchen unter Sehgesunden.

„Ich war immer mutig“, sagt Lina Maria. Trotz der ungünstigen Prognose für ihr Augenlicht, entschied sich das Kind, auf einer Regelschule zu bleiben, machte Abitur, ging nach dem Abi eine Zeitlang zu ihren Großeltern nach Brasilien, absolvierte zwei Studiengänge. Das erste Studium war ein duales Studium, bei dem die junge Frau alle drei Monate zwischen Ravensburg und Leipzig pendelte und im vierten Semester einen Abstecher nach Spanien machte. „Hier brauchte ich noch deutlich mehr Hilfe bei der Erstellung von wissenschaftlichen Arbeiten, da die Digitalisierung nicht so weit war“, blickt Lina Maria zurück.

Später studierte sie dann an der renommierten WHU - Otto Beisheim School of Management auf Englisch. Dort hatte sie Vorlesungen in Düsseldorf, Chicago (USA), Shanghai (China) und Bangladore (Indien). „Hier fühlte ich mich das erste Mal wirklich inkludiert, da wir 44 Studenten aus über 18 Nationen und einem gemeinsamen Ziel waren. Meine Masterarbeit 2016 konnte ich dann dank der Digitalisierung komplett absolut unabhängig erstellen, da alle Informationen digital oder als Audiodateien zugänglich waren.“

Lina Maria machte als Managerin Karriere im internationalen Business. Ihr beruflicher Lebenslauf ist vier Seiten lang, sie spricht vier Sprachen, drei davon fließend. Und sie hat viel zu sagen, in welcher Sprache auch immer. „Behinderung ist keine Verhinderung,“ sagt sie. Und: „Ich kann werden, was ich will.“ Das sind zwei ihrer Leitsätze.

Zwei junge Frauen mit Laufkleidung stehen lächelnd Arm in Arm nebeneinander. Sie tragen Medaillen um den Hals.
Lina rennt: Für einen guten Zweck nimmt Lina Maria (r.) an Marathonläufen teil. Auf dem Bild feiert sie mit ihrem Laufcoach Anne-Birthe Schramm (l.) den Erfolg. Foto: Alexandra Malinka

Doch so einfach, wie es sich im Lebenslauf liest, war es nicht für die gebürtige deutsch-brasilianische Düsseldorferin. In ihrer Arbeitswelt gab sie alles. Sie glaubte, doppelt und dreifach so gut sein zu müssen wie andere im Beruf. Es gab tiefe Krisen.

„Für mich ist Autonomie das Wichtigste“, sagt die arbeitswütige junge Frau, gab Festanstellungen auf, reihte weitere Lizenzen und Ausbildungen aneinander, ließ sich bei einer renommierten Akademie zum Business Coach ausbilden.

„Wenn ich immer nur darauf gehört hätte, was andere mir rieten, wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Ich bin nicht am Ziel, sondern habe nun die optimale Ausgangsposition erreicht, um Veränderungen auch im gesellschaftlichen Leben aktiv voranzutreiben.“ Lina Maria betont: „Ich bin davon überzeugt, dass Inklusion ein Grundrecht ist und wir dessen konsequente Umsetzung nur doch den Dialog auf Augenhöhe schaffen.“

2020 machte sie sich selbstständig und entwickelte eine eigene Methode, die sie sich als blindsport.coaching® hat markenrechtlich schützen lassen. Ihre Firma nennt sie „purposehub“ – in dem englischen Namen verbergen sich „Zweck“ und „Mittelpunkt“. Jetzt coacht sie Manager aus dem In- und Ausland, biegt ihnen bei, warum Inklusion ihrer Firma viele Vorteile bringt, arbeitet mit ihren Klienten an Führungsstil und persönlicher Entwicklung. „Manche Menschen werden blind für sich selber“, sagt sie. Und Lina Maria macht sie sehend.

„Ich arbeite mit Menschen, die sich neu ausrichten möchten“, sagt Lina Maria. Auch sie musste sich mehrmals in ihrem Leben neu erfinden. Und es geht. „Ich arbeite mit den Klienten nicht am Problem, sondern an der Lösung.“ Lina Maria nimmt Vorstandsvorsitzende genauso unter ihre Fittiche wie Studenten und hilft ihnen, „ihr eigenes Drehbuch zu schreiben“.

In ihrem eigenen Drehbuch kommt der Sport nicht zu kurz. Lina Maria läuft – nicht eine Runde um den Block, sie läuft Marathon. Zur Erinnerung für die Nichtsportler: Das sind 42,195 Kilometer am Stück!

Im Jahr 2005 hat sie mit dem Laufen begonnen, seit 2016 ist sie Marathoni. Wie das geht? Es braucht Training, Disziplin, Durchhaltevermögen. „Früher bin ich mit einem Guide gelaufen, der die Richtung angab,“ sagt sie. Heute verbindet sie ein Band mit ihrem Guide, da sei man flexibler. Der letzte Langlauf war im Herbst 2022 in New York. Im Frühjahr 2023 startete sie beim Halbmarathon in Paris. Das nächste Ziel liegt in Toronto.

Linas Leben gleicht einem Dauerlauf. Und so ist es kein Wunder, dass das von ihr ins Leben gerufene Projekt „LINA RENNT“ so erfolgreich ist. Die Sportlerin sucht Sponsoren und läuft für unterschiedliche soziale Projekte in Indien oder Brasilien oder sonstwo auf der Welt. Sie erlief auch ein hübsches Sümmchen für die Kinderaugenkrebsstiftung.

„Ich mag Wettbewerb, er spornt mich an“, sagt die Dauerläuferin Lina Maria. Doch zu viel ist zu viel. „Ich habe gelernt, dass es auch ein fairer und freundlicher Wettbewerb mit mir selber sein muss“, meint sie, holt ihre Laufschuhe hervor und sagt: „Ich will nur ein wenig trainieren vor dem nächsten Coaching.“

Der Begriff Zapfen-Stäbchen-Dystrophie bezeichnet eine Gruppe genetisch bedingter Netzhauterkrankungen. Bei dieser Erkrankung ist die gesamte Netzhaut betroffen: zuerst die Zapfen und im weiteren Verlauf die Stäbchen. Die Zapfenzellen ermöglichen das Farbensehen, die Stäbchenzellen das Hell-Dunkelsehen. Die Betroffenen nehmen ihre Umwelt immer verschwommener wahr.