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LPF und die neuen Möglichkeiten durch das Bundesteilhabegesetz
Von Dr. Michael Richter
Einen Großteil meines nunmehr zwanzig Jahre währenden Berufslebens in der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe hat mich die Frage beschäftigt, wie es gelingen kann, dass Menschen nach Erblindung oder einer massiven Sehverschlechterung Anspruch haben auf die wichtige Rehabilitationsleistung Lebenspraktische Fähigkeiten (LPF). Maßgeblich beteiligt gewesen ist Dr. Herbert Demmel, dem ich für seinen unermüdlichen Einsatz um die rechtliche Etablierung von Rehabilitationsrechten sehbehinderter und blinder Menschen danke.
Unstreitig dürfte sein (und inzwischen wohl auch durch Studien belegt), dass die LPF ein wichtiger Baustein sind, um die Folgen nach einer Erblindung oder massiven Sehverschlechterung abzumildern. LPF tragen häufig dazu bei, Selbstständigkeit (Selbstbestimmtheit) zu erhalten oder ermöglichen sogar erst den Verbleib im eigenen Wohnumfeld nach dem Behinderungserwerb. Plötzlich ist dieser Leistungsanspruch für einen Großteil der betroffenen Menschen gegeben – ich habe aber das Gefühl, dass diese Erkenntnis bei potenziellen Ansprechpersonen wie Augenärztinnen und -ärzten, Beratungsstellen, Rehalehrerinnen und -lehrern noch nicht angekommen ist.
Anspruch auf LPF und der Eigenbetrag: Reformen und Berechnungen
Seit dem 1. Januar 2020 gilt ein neues Eingliederungshilferecht im Zuge der mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) verabschiedeten Reformen. Neben dem Umzug des Eingliederungshilferechts aus dem SGB XII in den 2. Teil des SGB IX wurden mit der Reform insbesondere die Bedingungen für den Einsatz von Einkommen und Vermögen völlig neu geregelt.
Es wird nicht mehr auf das bereinigte Nettoeinkommen der Bedarfsgemeinschaft abgestellt, das dem aus den Eckregelsatzbeträgen und Kosten der Unterkunft ermittelten Einkommensfreibetrag gegenübergestellt wird. Vielmehr ist für die Ermittlung des Eigenbeitrags allein das Bruttoeinkommen maßgeblich. Auf die individuelle Situation (zum Beispiel hohe behinderungsbedingte Unterkunftskosten in Ballungsräumen) kommt es nicht mehr an. Konkret heißt es in § 135 Abs. 1 SGB IX: „Maßgeblich für die Ermittlung des Beitrags nach § 136 ist die Summe der Einkünfte des Vorvorjahres nach § 2 Absatz 2 des Einkommensteuergesetzes sowie bei Renteneinkünften die Bruttorente des Vorvorjahres.“ Berücksichtigt wird nur das Einkommen der antragstellenden Person und bei Minderjährigen das der Eltern. Das Einkommen und Vermögen von Partnerin oder Partner wird nicht mehr herangezogen.
Zunächst wird nunmehr der individuelle Einkommensfreibetrag ermittelt. Dieser ist allein abhängig von der Art des Einkommens und vom Familienstand (§ 136 Abs. 2 ff. SGB IX). Als Bezugsrahmen für die Ermittlung des Einkommensfreibetrags dient die Sozialversicherungsbezugsgröße nach § 18 SGB IV. Diese wird jährlich festgesetzt und betrug zuletzt etwa 40.000 Euro. Eine Heranziehung findet erst statt, wenn Einkommen oberhalb des jeweils geltenden prozentualen Anteils der jährlichen Bezugsgröße nach § 18 Abs.1 SGB IV erzielt wird (§ 136 SGB IX). Beispielsweise beträgt für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte der Einkommensfreibetrag 85 Prozent der Bezugsgröße. Bei einem alleinstehenden versicherungspflichtig Beschäftigten würde aktuell erst ab einem Einkommen von etwa 34.000 Euro ein Eigenbeitrag für Leistungen der Eingliederungshilfe fällig werden. Bei nicht sozialversicherungspflichtigem Einkommen (zum Beispiel Mieteinnahmen) beträgt der Freibetrag 75 Prozent und bei Renteneinkommen 60 Prozent der Bezugsgröße. Für unterhaltsberechtigte Kinder, für Partnerin/Partner mit niedrigerem Einkommen oder bei minderjährigen Leistungsberechtigten erhöht sich der Freibetrag entsprechend den Vorgaben des § 136 Abs. 3 ff. SGB IX.
Darüber hinaus sind von dem die Einkommensgrenzen übersteigenden Jahreseinkommen jedoch auch nur zwei Prozent als monatlicher Beitrag aufzubringen (§ 137 SGB IX), im Ergebnis also keinesfalls mehr als 24 Prozent des die Grenzen übersteigenden Jahreseinkommens. Weiterhin wurde der Vermögensfreibetrag 2020 auf 150 Prozent der jährlichen Bezugsgröße (§ 139 SGB IX) festgesetzt, das heißt aktuell beträgt der Vermögensfreibetrag in der Eingliederungshilfe ungefähr 60.000 Euro.
Beispielrechnung
Ein alleinstehender Rentner mit einer Jahresrente von 30.000 Euro hätte monatlich einen Eigenbeitrag von 120 Euro zu benötigten Eingliederungshilfeleistungen zu leisten (30.000 Euro – 24.000 Euro = 6.000 Euro (überschießendes Einkommen), davon 2 Prozent = 120 Euro). Über diese erfreulichen Veränderungen hinaus, die einem vielfach größeren Personenkreis den Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe eröffnen dürften, findet nun aber auch die LPF-Schulung im Wortlaut neuer Vorschriften ausdrücklich Berücksichtigung.
Soziale Teilhabe
In § 113 Abs. 2 Nr. 5 SGB IX heißt es unter der Überschrift „Leistungen zur Sozialen Teilhabe“ nunmehr: „(1) Leistungen zur Sozialen Teilhabe werden erbracht, um eine gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, soweit sie nicht nach den Kapiteln 3 bis 5 erbracht werden. Hierzu gehört, Leistungsberechtigte zu einer möglichst selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung im eigenen Wohnraum sowie in ihrem Sozialraum zu befähigen oder sie hierbei zu unterstützen. Maßgeblich sind die Ermittlungen und Feststellungen nach Kapitel 7. (2) Leistungen zur Sozialen Teilhabe sind insbesondere […] 5. Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten, […].“
Weiterhin wird dann in § 81 SGB IX ergänzend und klarstellend unter der Überschrift „Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten“ ausgeführt: „Leistungen zum Erwerb und Erhalt praktischer Kenntnisse und Fähigkeiten werden erbracht, um Leistungsberechtigten die für sie erreichbare Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Die Leistungen sind insbesondere darauf gerichtet, die Leistungsberechtigten in Fördergruppen und Schulungen oder ähnlichen Maßnahmen zur Vornahme lebenspraktischer Handlungen einschließlich hauswirtschaftlicher Tätigkeiten zu befähigen, sie auf die Teilhabe am Arbeitsleben vorzubereiten, ihre Sprache und Kommunikation zu verbessern und sie zu befähigen, sich ohne fremde Hilfe sicher im Verkehr zu bewegen. Die Leistungen umfassen auch die blindentechnische Grundausbildung.“
Mithin dürfte es nunmehr eine hinreichend bestimmte Anspruchsgrundlage für die Schulung von LPF im neu gegliederten und neu verorteten Eingliederungshilferecht mit deutlich moderateren Regelungen zum Einsatz vorhandenen Einkommens und Vermögens geben, welche die Bemühungen um die Schaffung einer eigenen Anspruchsgrundlage im Krankenkassenrecht, insbesondere in Form einer grundständigen Rehabilitationsleistung nach Sehverlust, zwar nicht gänzlich entbehrlich erscheinen lässt, zumindest aber den unmittelbaren Handlungsbedarf für das Etablieren eines Anspruchs auf eine wirksame und niederschwellige LPF-Schulung deutlich reduziert.
Finanziert auch von der GKV
Abschließend sei noch einmal klargestellt, dass über die „Neuregelung“ hinaus aber trotzdem noch die oben dargestellte Empfehlung mancher gesetzlichen Krankenkasse (GKV) gilt, dass LPF-Schulungen auch von den Krankenkassen finanziert werden können. Die Eingliederungshilfe betreffend hat bei Schülerinnen und Schülern im Rahmen der Schulpflicht auch die Zuordnung der Leistung zum Bereich der unterstützenden Leistungen für eine angemessene Schulbildung im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII (alte Fassung) Geltung, wie die angeführte Rechtsprechung zeigt, welche die Leistung der Teilhabe an Bildung im Sinne von § 112 SGB IX zuordnet. Das heißt, dass in diesem Bereich keine Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen erfolgen sollte.
Erschienen in der Retina aktuell, Nr. 166