Möchten Sie die Darstellung der Website ihren persönlichen Bedürfnissen anpassen?
Die Einstellungen können Sie auch später noch über das Symbol ändern.

Zum Inhalt springen

Netzhautprothesen: Bericht eines interessierten "Laien"

Infoveranstaltungen zur Netzhautprothese Argus II ein Zuhörer berichtet

Vorbemerkung

Clemens Rüttenauer hat in München mehrere Infoveranstaltungen zum Netzhautprothesensystem besucht. Bei einer dieser Veranstaltungen hatte die Firma Second Sight, der Hersteller der Netzhautprothese Argus II, eingeladen. Hauptreferent war der medizinische Leiter des Münchener Projekts Prof. Lohmann vom Klinikum Rechts der Isar. Das Einmalige dieser Veranstaltung: ein Träger des Argus II berichtete von seinen Erfahrungen und beantwortete Fragen. Im Folgenden, etwas längeren Text berichtet Clemens Rüttenauer, wie er die Zusammenhänge verstanden hat. Am Ende des Berichtes befindet sich eine Aktualisierung mit Neuigkeiten aus einer Second Sight-Infoveranstaltung Anfang April 2014.

Lange Entwicklungsgeschichte

Seit mehr als zehn Jahren wird an der Entwicklung von Netzhautprothesen gearbeitet – auch bezeichnet als Netzhaut Implantat oder etwas salopp Netzhaut Chip. Die Idee dazu ist noch wesentlich älter. Anfangs gab es viel Skepsis. Wie sollte es gelingen, elektrische Impulse eines Chips an die Sinneszellen des Auges zu übertragen? Wird das Gehirn mit solchen elektronisch erzeugten Impulsen etwas anfangen können? Inzwischen wissen wir, prinzipiell funktioniert es. Als erstes erhielt das Implantat Argus II die Zulassung. Weltweit sollen bereits 60 Menschen damit leben. Im Juli 2013 erhielt auch das Alpha IMS der Retina Implant AG die begehrte Zulassung.

Epiretinal oder subretinal?

Als sich vor Jahren die Pläne für ein Implantat konkretisierten, gab es zwei unterschiedliche Lösungsansätze. Der wesentliche Unterschied war, die einen wollten das Implantat auf die Netzhaut setzen (epiretinal), die anderen darunter (subretinal). Das Argus II ist epiretinal, das Alpha IMS subretinal. Beide Systeme haben Vor- und Nachteile. Beim Argus II ist der operative Eingriff viel einfacher. Die Operation dauert ca. 3 Stunden. Beim Alpha IMS sind es dagegen ca. 10 Stunden. Beim Argus II sitzen Kamera und Elektronik außen an einem Brillengestell, innen im Auge befindet sich nur ein Funkempfänger und ein Gitter mit Elektroden. Will man das Blickfeld ändern, muss man den Kopf bewegen, eine Augenbewegung bewirkt nichts. Andererseits ermöglicht diese Konfiguration auch nach dem operativen Eingriff noch Änderungen an der Hard- und Software. Beim Alpha IMS sitzt der Chip mit den Photodioden direkt im Auge. Das Blickfeld folgt den Augenbewegungen, Änderungen am Chip können nach der Operation nicht mehr vorgenommen werden. Möglich, dass sich im Laufe der Erprobung und Weiterentwicklung eines der Produkte eindeutig als das bessere erweist. Möglich auch, dass es von der Situation des jeweiligen Auges abhängt, ob eher das eine oder eher das andere Implantat angezeigt ist.

Wie funktioniert das natürliche Sehen?

Die Linse hinter der Hornhaut nimmt die im Blickfeld liegenden Lichtwellen auf, bündelt sie und erzeugt ein Abbild auf der Netzhaut. Auf der Netzhaut sitzen die Photorezeptoren – Zapfen- und Stäbchenzellen. Diese erzeugen aus den Lichtwellen elektrische Impulse, die sie an die Bipolarzellen weiterleiten. Über die Sehnervfasern gelangen die Reize an den zentralen Sehnerv. Der Sehnerv leitet diese Impulse gebündelt an das Gehirn weiter. Dort entsteht ein Bild, ein Film und ggf. ein Erkennen. Erkennen heißt, eine Übereinstimmung feststellen mit einem im Gehirn gespeicherten Seheindruck oder Muster.

Wie funktioniert das Implantat?

Beim Argus II nimmt eine externe Empfangseinheit aus Kamera und Elektronik die Lichtwellen auf und macht daraus elektrische Impulse. Diese Impulse werden per Funk an ein Gitter mit Elektroden geschickt, das auf der Netzhaut sitzt. Dann werden die Gangleinzellen elektrisch stimuliert, die die Reize an die Bipolarzellen weitergeben. Das Alpha IMS benutzt die natürliche Optik (Linse) des Auges. Der Chip mit den Photodioden, die das Licht in elektrische Spannung umwandeln, sitzt direkt im Auge. Das subretinale Implantat nimmt genau dieselbe Position ein, wie die untergegangenen Photorezeptoren. Damit ist der Weg zu den Bipolarzellen unmittelbarer. Beiden Systemen ist gemein, dass keine Chance besteht, gezielt eine direkte Verbindung zwischen den Elektroden und den spannungsempfindlichen Bipolarzellen herzustellen. Stattdessen wird mit den elektrischen Impulsen einfach drauflos gefeuert, in der Erwartung, dass auf Grund der räumlichen Nähe und der hohen Intensität die Bipolarzellen reagieren werden. Zeigen die Bipolarzellen eine Reaktion, dann geht es ab hier weiter wie beim natürlichen Sehen – über die Sehnervfasern und den Sehnerv ins Gehirn. Nebenbei, Farben sind nicht möglich, das Bild ist schwarz weiß.

Wann kann das Implantat helfen?

Aus der schematischen Darstellung wird klar, was das Implantat kann, und was nicht. Das Implantat ersetzt die fehlende Funktion der natürlichen Photorezeptoren, also der Zapfen- und Stäbchenzellen. Die anderen Elemente des Auges bzw. des gesamten Sehprozesses müssen noch funktionieren – sonst geht nichts. Der Sehnerv muss noch arbeiten, die Bipolarzellen müssen reaktionsfähig sein und das Gehirn muss mit den angelieferten Impulsen etwas Vernünftiges anfangen können. Betont wird immer, dass nur solche Probanden geeignet sind, die früher sehend waren und heute völlig blind sind. Das Gehirn muss das Sehen bereits erlernt haben. Eine typische, aber wohl nicht die einzige Netzhauterkrankung, die hier in Frage kommt, ist Retinitis Pigmentosa.

Die Sehleistung der Implantate

Das Gesichtsfeld ist bei beiden Implantaten relativ eng. Bei Argus II umfasst es etwa ein DIN A4 Blatt bei ausgestrecktem Arm. Das dürften etwa 20 Grad sein. Beim Alpha IMS werden 12 Grad angegeben. Das Bild ähnelt damit dem Tunnelblick eines RP-lers. Aber mit einem ganz entscheidenden Unterschied. Der RP-ler sieht innerhalb des Tunnels, auch wenn er einen Winkel von deutlich weniger als 10 Grad hat, so scharf wie ein Gesunder. Er kann, wenn er das Wort / die Zeile fixiert hat, noch lesen. Der Argus-II-Träger dagegen muss das Blatt durch entsprechende Kopfbewegungen mühsam Abscannen, um einen blattfüllenden Buchstaben zu identifizieren. Es wäre falsch, diesen Vorgang als Lesen zu bezeichnen. Genau so wenig wird allein schon mit der Sehprothese eine vollständige Mobilität erreicht. Der Argus-II-Träger braucht weiterhin einen Langstock, einen Führhund oder eine Begleitperson.

Mein Eindruck war, dass die Teilnehmer der Veranstaltung diese Sehleistung sehr kritisch beurteilten. Im Gegensatz dazu stand der subjektive Eindruck des Implantat-Trägers selbst. Er berichtete, es wäre ein ganz tiefes Erlebnis gewesen nach Jahren der Dunkelheit wieder Licht zu sehen. Dass es schwierig sei, Gegenstände zu erkennen, nahm er als gegeben hin – schließlich waren ihm auch keine Wunder versprochen worden. Er war nach wie vor überzeugt, mit dem Implantat die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Er verwendet die Sehhilfe – wenn ich mich richtig erinnere – täglich bis zu 4 Stunden. Mehr als 4 Stunden seien nicht empfehlenswert, da es sehr anstrengend sei. Aus diesen Schilderungen wurde auch deutlich, der Träger muss viel Aufwand investieren, um den praktischen Umgang zu erlernen.

Über die Sehleistung mit dem Alpha IMS gibt es noch keine Erfahrung in der Breite. Das Alpha IMS hat mit einer Pixel Anzahl von 1500 gegenüber den 60 des Atgus 2 zahlenmäßig einen sehr deutlichen Vorsprung. Die physiologischen und technischen Abläufe mit einem Implantat im Auge sind aber zu komplex, als dass man die Sehleistung allein an der Pixel Anzahl festmachen könnte. Immerhin ist das medizinische Ziel des Alpha-IMS-Projekts nach Angaben der Entwickler eine Sehleistung von 10 %. Das wäre, wenn es in der weiteren Entwicklung tatsächlich zu erreichen wäre, dann doch mehr als beim heutigen Argus II.

„Heise online“ berichtete über beide Produkte: „…Die mit beiden Verfahren wiederherstellbare Sehleistung ist keineswegs vollständig und variiert von Patient zu Patient stark. Einige können beispielsweise wieder sich langsam bewegende Fahrzeuge wahrnehmen, offene Türen oder Haushaltsgegenstände sehen. Bei anderen Personen stellt sich gar keine Verbesserung ein. Dennoch hofft man bei Herstellern und in der Forschung, dass diese frühen Versionen der Retina-Prothesen bald durch bessere Modelle ersetzt werden, die mehr leisten. Diese werden vermutlich auch mehr Elektroden benötigen, um ein genaueres Bild an das Gehirn weiterzuleiten…“

Mein Kommentar: Wenn’s nur so einfach wäre – das mit der Vermehrung der Elektroden! Das Problem besteht darin, dass es nicht möglich ist, die auf elektrische Impulse reagierenden Nervenzellen direkt und einzeln anzusprechen. Die Impulse aus dem Elektrodengitter wirken nicht gezielt sondern flächig. Sie haben eine Streuwirkung. Ist der Abstand zwischen den Elektroden zu gering, entsteht mehr Verwirrung als Klarheit.

Update: Second Sight Infoveranstaltung im April 2014

Am 02.04.2014 fand in München eine weitere Informationsveranstaltung von Second Sight zum Thema Argus II statt. Neu war für mich, dass es per Software-Update möglich ist bestimmte Filter und Verstärkungen einzurichten, so dass z. B. waagrechte Linien – wie bei Treppen – deutlicher hervorgehoben werden. Die Möglichkeit des Software-Updates ist ja ein großer Vorteil dieser epiretinalen Lösung des Argus II. Second Sight betont die Wichtigkeit ausführlicher Vorbesprechnungen und Beratungen. Der Patient muss verstehen, was mit dem künstlichen Sehen zu erreichen ist, und was nicht. Es ist eine künstliche Wahrnehmung von Lichtimpulsen, die in der Welt des natürlichen Sehens keine Entsprechung findet, – eine ganz andere Art des Sehens. Berichte in den Medien sind häufig weniger differenziert. Schlagzeilen wie „Blinde können mit einem Chip im Auge wieder sehen“ sind ja nicht direkt unrichtig, vermitteln aber bei Uninformierten einen ganz falschen Eindruck. Die tägliche Tragedauer kann bis zu 12 Stunden ausgedehnt werden; notfalls muss man einen zweiten Akku bereit halten. Inzwischen gibt es weltweit 80 Argus-II-Träger. Der Chip ist ausgelegt auf lebenslanges Tragen. Da das Auge bis zum 25-sten Lebensjahr noch wächst, ist 25 das Mindestalter für eine Implantation. Ein Höchstalter gibt es nicht. Ein kurzer Filmausschnitt mit den ersten Wahrnehmungen einer „Frisch-Implantierten“ bestätigte die Aussagen des Chipträgers aus der ersten Veranstaltung: Die Freude und die Begeisterung waren groß!

Weiterentwicklung

Ich denke, wir stehen vor einer vielversprechenden, vielleicht sogar revolutionären Entwicklung, befinden uns aber noch ganz am Anfang. Wer jetzt schon als Patient die Strapazen der Erprobung und Entwicklung auf sich nimmt, verdient höchsten Respekt. Es braucht Menschen, die den Mut und die Energie aufbringen, die Entwicklung voranzutreiben. Andererseits zeigen die vielen erfolgreichen Beispiele, die Netzhautprothese hat nicht mehr den Charakter eines reinen Experiments. Sie wird zu einem Hilfsmittel für Blinde. Parallele Entwicklungen Das Netzhaut Implantat beginnt gerade ein Erfolg zu werden, da gehen mutige Forscher schon den nächsten Schritt. Sie wollen sich den Umweg über das Auge sparen und die Elektroden direkt ins Gehirn leiten. Beim IDW – Informationsdienst Wissenschaft – heißt es dazu einleitend: “Hoffnung für Blinde – auch wenn der Weg zum visuellen Wahrnehmen noch weit ist: Neurowissenschaftler und Elektrotechniker der Universität Bremen starten jetzt mit Mitteln aus der Exzellenzinitiative und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zwei Projekte, die Blinden helfen sollen, visuelle Eindrücke zu bekommen. In den Vorhaben „I-See – das künstliche Auge“ und „InAuKa“ geht es darum, wie elektrische Signale direkt ins Gehirn eingespeist und dort verarbeitet werden.”

Ein ganz anderer, mehr technischer als medizinischer Ansatz kommt aus der Ecke “Augmented Reality” (AR). Die Idee von AR besteht darin, mit Hilfe von High Tech Daten und Informationen aus der Umgebung des Betrachters zu sammeln, zu analysieren und aufzubereiten. Ein typisches Beispiel ist Googles Datenbrille Google Glass. Diese Entwicklung kommt nun auch Sehgeschädigten zugute. Eine erste Produktentwicklung ist die sprechende Brille OrCam einer israelischen Firma.

Quelle: Clemi`s Seh-Blick