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BBS Patientenseminar 2023

 

Vom 12. bis 14.5.2023 fand das diesjährige BBS-Patientenseminar im President-Hotel in Bonn statt. Fast 70 Teilnehmer*innen aus ganz Deutschland und Österreich haben teilgenommen und die Gelegenheit zur Information und zum regen Austausch untereinander genutzt. Es war eine bunte Mischung aus Betroffenen und Angehörigen im Alter zwischen 3 und 81 Jahren.

Nach einer herzlichen Begrüßung durch Max Kerber und Bernarda Gillißen, die uns das ganze Wochenende souverän durch das Programm geführt haben, begann der erste Vortrag.

 

Frau Dipl. Psychologin Clara Nittel informierte über den Stand der Untersuchungen von psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen (zwischen 1 und 24 Jahren) mit BBS, ein Bereich, der bislang kaum Aufmerksamkeit in der Forschung zu BBS fand. An der Studie im Rahmen des Forschungsprojekts Neocyst nahmen bisher insgesamt 19 BBS-Betroffene teil. Diese kleine Stichprobe erlaubt noch keine validen Aussagen. Die bisher erhobenen Daten bewegen sich sowohl bzgl. der allgemeinen Psychopathologie als auch bzgl. ADHS weitgehend im Mittel, wobei die BBS-Betroffenen etwas mehr zu Ängstlichkeit und Depressivität sowie zu mehr Auffälligkeiten in der sozialen Kommunikation neigen.

Weitere Infos (auch zur Teilnahme an der Studie) unter https://www.neocyst.de/de/p2-3-neuropsychologische-untersuchungen-bei-neocyst-patienten/

 

Im Anschluss berichteten Frau Janzen (Schulleiterin), Frau Stangrecki, Frau Greiß und Frau Fecke sehr eindrucksvoll von den Angeboten des LWL Berufskollegs und Berufsbildungswerks in Soest. 

Die Möglichkeiten am Berufskolleg (BK) sind sehr vielfältig. Für viele zunächst sicherlich überraschend war die Information, dass eine duale Ausbildung ggfs. auch ohne Schulabschluss möglich ist.  

Im vollzeitschulischen Bereich bietet das LWL Berufskolleg alle Bildungsabschlüsse an. Vor der Aufnahme findet ein individuelles Beratungsgespräch statt. Es folgt eine Schnupperwoche mit Internat. Nach Aufnahme erfolgt im Rahmen einer Einführungswoche und darüber hinaus eine umfassende Diagnostik auf deren Grundlage individuelle Förderangebote entwickelt werden. Nicht zuletzt wird der Übergang Schule – Beruf eng begleitet. Einmal im Monat ist die Agentur für Arbeit vor Ort, die dann auch eine barrierefreie Testung ermöglicht. 

Unterstützungsangebote finden sich in Form von Schülerfirmen, Schulsozialarbeit, Schülerinternat, Inklusion am (wohnortnahen) Berufskolleg und in der individuellen Förderung. Diese umfasst Hilfsmittelkompetenz, Punktschriftkompetenz, Alltags-management, Spezialförderung bei akuter Sehverschlechterung oder besonderen Bedarfen durch ein multiprofessionelles Team (MPT). Frau Greiß führte hierzu viele sehr anschauliche Beispiele an.

 

In Soest ist neben den Standorten Stuttgart und Chemnitz eins von drei Berufsbildungswerken (BBW) für Sehbehinderte und Blinde in Deutschland.

Nach einer Eignungsabklärung (Was ist möglich, z.B. auch bei fortschreitender Sehverschlechterung?) bietet das BBW eine Arbeitserprobung, blindentechnische Grundausbildung (auch Auseinandersetzung mit der Behinderung) oder berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen an.

Vor Ort gibt es drei Ausbildungsbereiche: Metalltechnik, Wirtschaft und Verwaltung, Ernährung und Hauswirtschaft.

Darüber hinaus umfasst das Angebot eine Hilfsmittelberatung sowie Training und Beratung für Betroffene (Lebenspraktische Fähigkeiten, Orientierung und Mobilität).

Mit dem Lernort Wohnen wird über ein gestuftes Wohnkonzept das Ziel verfolgt, in Zukunft selbstständig zu wohnen. Die jungen Menschen wohnen zunächst in einer Basisgruppe mit enger Begleitung, bevor sie über eine Verselbständigungsgruppe auf dem BBW-Gelände ggf. den Sprung in eine Außenwohngruppe schaffen.

Weitere Infos unter www.lwl-bk-soest.de und www.lwl-bbw-soest.de.

 

Nach dem Abendessen folgte eine kurze Vorstellungsrunde und wer noch Kraft hatte, fand an der Bar Gelegenheit zum persönlichen Gespräch.

 

Am nächsten Morgen ging es gleich nach dem Frühstück mit dem Bus zur Uniklinik Bonn. Dort hatte Frau Prof. Dr. Wachten uns zum Patiententag eingeladen. Auch hier erwartete uns ein abwechslungsreiches und interessantes Programm.

Zu Beginn stellte Dr. Cetiner noch einmal die 6 Hauptsymptome von BBS dar und verwies darauf, dass mittlerweile 26 BBS-Gene bekannt sind. Der Schwerpunkt seines Vortrags lag jedoch auf dem mit Spannung erwarteten Thema Adipositas und deren Behandlung durch Setmelanotide. BBS-Patienten entwickeln kein Sättigungsgefühl. Die Folge ist übermäßiges Essen und eine ständige Beschäftigung mit dem Thema Essen. Bei BBS 10 scheint dies noch etwas mehr ausgeprägt zu sein als bei BBS 1. Das Medikament Imcivree mit dem Wirkstoff Setmelanotid ist in Deutschland für BBS- Patienten ab 6 Jahren zugelassen und wird nun auch über die Krankenkassen finanziert. Es führt dazu, dass das Hungergefühl reduziert wird. In der Testphase wurde eine Gewichtsabnahme von etwa 10% in einem Jahr erreicht. Die weitere Entwicklung muss in der Zukunft beobachtet werden. Bei Kindern wäre es als Erfolg zu werten, das Gewicht trotz Wachstum zu halten.  

Derzeit muss das Medikament täglich subkutan gespritzt werden. Es wird an einer Umstellung auf eine wöchentliche Gabe per Pen gearbeitet. Die Kosten belaufen sich auf 200 000-300 000 € pro Jahr. Die Verordnung und Begleitung soll über Zentren z.B. in Leipzig, Berlin, Hamburg, Münster, Tübingen, Frankfurt, Essen erfolgen. Die bislang am häufigsten beobachtete Nebenwirkung ist eine dezente Dunklerfärbung der Haut.

Am 29.05.23 wird ein Zoom-Meeting zu diesem Thema mit Herrn Dr. Metin Cetiner stattfinden.

Im Anschluss an seinen Vortrag bot Dr. Cetiner die Gelegenheit zum Ultraschall mit einem hochmodernen Ultraschallgerät, das eigens aus Essen antransportiert wurde. 23 Patienten nutzten dieses Angebot bis in den Abend hinein.

 

Beim nächsten Vortrag ging es um die Frage: „Was ist am Immunsystem von BBS-Betroffenen anders als bei anderen Menschen?“

Frau Prof. Dr. Dagmar Wachten berichtete über die Ergebnisse ihrer Untersuchungen. Grundlage waren unter anderem die Blutproben, die BBS-Betroffene spontan beim letzten Patiententag 2021 in Essen gespendet hatten.

Menschen mit Übergewicht leiden häufig an metabolischen Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen, Atemwegserkrankungen…Diese entstehen bei adipösen Menschen durch chronische Entzündungen im Körper (Metaflammation).   

Es wurden Daten erhoben von BBS1- und BBS10 – Patienten. Dabei zeigte sich, dass das Labor bei den Proben der BBS 1-Patienten insgesamt gesünder aussah als bei denen der BBS 10-Patienten und zwar unabhängig von Alter und Gewicht. Auch die regulatorischen T-Zellen, die im Gewebe und Blut das Gleichgewicht halten und damit das Immunsystem unter Kontrolle halten, zeigten sich bei BBS 1 wie bei gesunden Menschen und waren bei BBS 10 reduziert, so wie bei anderen stark übergewichtigen Menschen auch. Aufgrund der geringen Anzahl konnten keine Aussagen zu anderen Mutationen getätigt werden.

Prof. Dr. Helen May-Simera berichtete über die neuesten Ergebnisse aus der Zilienforschung: Zilien sind dünne Fortsätze auf fast allen Zellen des Menschen. Man unterscheidet motorische (bewegliche) Zilien und Primärzilien (sensorische). Letztere sind für die Kommunikation zwischen den Zellen verantwortlich und weisen bei BBS Defekte auf. Es gibt zunehmend mehr Forschung und Publikationen auf diesem Gebiet mit folgenden Schwerpunkten:

1.    Aufgaben der Zilien

2.    Forschung zu neuen Mutationen und neuen Beschreibungen der Erkrankung (z.B. Zahnanomalien, Schlafstörungen). Im Mausmodell konnte eine Verzögerung des Sehkraftverlusts durch eine subretinale Gentherapie bei BBS 10 nachgewiesen werden.

3.    BBS-Proteine werden zunehmend an anderen Stellen der Zelle gefunden.

 

Im Anschluss stellte Alexander Neugebauer, Doktorand an der Uniklinik Tübingen ein neuartiges Blickbewegungstraining zur Verbesserung der Navigationsfähigkeit bei Patienten mit eingeschränktem Gesichtsfeld vor. Ein gewisses Restsehvermögen ist Voraussetzung (Visus etwa 0,1). Das Training erfolgt mithilfe von Virtual-Reality-Brillen und kann somit risikofrei in häuslicher Umgebung durchgeführt werden. In einer experimentellen Studie mit 8 Retinitis-Pigmentosa-Patienten zeigten sich nach einem 4-wöchigen Training überwiegend leichte Verbesserungen beim Durchlaufen eines (realen) Parcours. Derzeit wird an einer Veröffentlichung im Internet als frei zugängliche Software gearbeitet.

 

In der Mittagspause konnten wir uns mit reichhaltigem und abwechslungsreichem Fingerfood stärken. Viele der Betroffenen nutzten die Gelegenheit, zu Forschungszwecken Blutproben abzugeben. Dank der guten Organisation und der Unterstützung durch die Studierenden und Doktoranden lief alles reibungslos ab.

 

Nach der Pause informierte Dr. med. Fadi Nasser von der Uniklinik Leipzig über seine Forschungsarbeit zu den ophthalmologischen und genetischen Merkmalen bei BBS. Die Arbeit beruht auf umfangreichen ophthalmologischen Untersuchungen von 61 BBS-Patienten im Alter von 5 bis 56 Jahren. Auch hier zeigte sich eine Häufung von Patienten mit BBS 1 und BBS 10. Die Bandbreite an Merkmalen und Symptomen ist groß und heterogen, eine Zuordnung zu einzelnen BBS-Genen konnte nicht festgestellt werden. Therapieoptionen sind zwar in der Entwicklung, in naher Zukunft jedoch noch nicht zu erwarten. Die wahrscheinlich hilfreichste Therapieform wäre eine Gentherapie.

 

Prof. Dr. Volker Busskamp von der Uniklinik Bonn stellte die Optogenetik als mögliche Therapieoption bei Netzhautdegeneration vor. Optogene sind Proteine, die lichtempfindlich sind und in verschiedene Zellen eingebracht werden können (Ganglienzellen, Bipolarzellen, Photorezeptoren). Dabei werden Viren in den Glaskörper oder unter die Netzhaut injiziert. Derzeit wird an Mäusen geforscht. Klinische Studien am Menschen sollen in Basel beginnen.   

 

Im Anschluss gab es die Gelegenheit im Workshop von Helen May-Simera und ihrem Team DNA aus Erdbeeren zu gewinnen.

Nach der Kaffeepause ging es weiter mit dem World Cafe bei dem wir Gelegenheit hatten, uns in wechselnden Gruppen zu verschiedenen Fragestellungen rund um den Umgang mit BBS auszutauschen und Anregungen für die Zukunft zu sammeln.

 

Nachdem sich die meisten schon am Abendbuffet gestärkt hatten, wurden auch die letzten vom Ultraschall zurück ins Hotel gebracht. An diesem Abend hatten noch viele Lust auf ein gemütliches Beisammensein, so dass es zu vielen unterhaltsamen Gesprächen kam.

 

Am Sonntagmorgen wurde wieder fleißig Urin gesammelt, den Helen May-Simera zu weiteren Forschungszwecken mit nach Mainz nahm.

Mit dem ersten Vortrag wurden wir dann in die Welt der barrierefreien Bücher mitgenommen. Frau Caroline Schürer und Frau Völlger stellten das „Deutsche Zentrum für barrierefreies Lesen“ in Leipzig vor. Dabei handelt es sich um die älteste Blindenbücherei in Deutschland, die 1894 in Leipzig gegründet wurde. Mittlerweile ist dort auch die größte Produktionsstätte barrierefreier Medien beheimatet. Es gibt ein vielfältiges Medienangebot:

- Braille- und Reliefmedien (taktile Kinderbücher, Landkarten, Musikalien..)

- Hörmedien

- Großdruck

Darüber hinaus gibt es weitere Angebote:

- Technikberatung

- BIKOSAX – Testung auf Barrierefreiheit von Internetseiten und Webangeboten

- Chance Inklusion – Zusammenarbeit mit öffentlichen Bibliotheken

Eine zentrale Rolle spielt auch die Leseförderung. Hierzu gibt es eigens hergestellte Materialien sowie spezielle Aktionen. Viele der sehr ansprechenden Materialien konnten wir in einer kleinen Ausstellung bewundern.

Mehr Informationen gibt es unter www.dzblesen.de.

 

Der letzte Programmpunkt vor dem abschließenden Mittagessen diente noch einmal dem Austausch und einem Ausblick für alle Teilnehmer*innen. In Gruppen sammelten wir Erfahrungen, Fragen, Wünsche zu den Themen Ernährung, Tipps und Tricks rund ums Handy, nicht offiziell zu BBS gehörende zusätzliche Krankheitserscheinungen und Symptome, Freizeitgestaltung und Wünsche/Anregungen für die Zukunft. Wieder kam es zu einem regen Austausch. Die vielen interessanten Denkanstöße aus beiden Workshops von Samstag und Sonntag nimmt der Arbeitskreis BBS mit und wird sie in die weitere Arbeit mit einbinden.

 

Es war schön, sich mal wieder ohne Einschränkungen treffen zu können, alte und neue Gesichter zu sehen und viele Eindrücke mit nach Hause zu nehmen. Auch die Kinder hatten Spaß und sind in der Kinderbetreuung während des kompletten Programms voll auf ihre Kosten gekommen.

Wir freuen uns auf das nächste Seminar in 2025!