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Artikel: Immer mehr Kinder werden kurzsichtig
„Meine Mutter, meine Oma waren hochgradig kurzsichtig und es gibt Bilder von mir, Kindheitsbilder, da halte ich also mein Puppentässchen so nah vor das Auge, wie das eigentlich nur kurzsichtigen Menschen eigen ist.“
Ruth Forschbach braucht eine Brille, seit sie denken kann. Die Kölnerin hat die Kurzsichtigkeit von ihrer Mutter geerbt. Ohne Hilfsmittel würde sie ihre Umwelt nur noch verschwommen wahrnehmen.
„Es ist dann so gewesen: Jedes Jahr neue Stärke, mehr Dioptrien und mit dem Wechsel in die weiterführende Schule, also ins Gymnasium, hatte ich also minus 10 Dioptrien, das war dann schon eine Ansage. Mit elf, zwölf Jahren. Und in der damaligen Zeit, das war in den 60er-Jahren, war es auch nicht unbedingt en vogue, eine Brille zu tragen, da war ich dann schon auch ein Außenseiter.“
Jeder kann kurzsichtig werden
Kinder mit Brille. Heute ist das keine Besonderheit mehr. Lange Zeit gingen Forschende davon aus, dass die Kurzsichtigkeit, oder Myopie wie sie in der Fachsprache genannt wird, von einer Generation auf die nächste vererbt wird. Doch inzwischen ist klar: Kurzsichtig kann jeder Mensch werden. Die Weichen werden in der Kindheit gestellt. Denn unsere Augen passen sich an unsere Lebensgewohnheiten an. Und der Lebensstil in der westlichen Welt führt dazu, dass immer mehr Menschen ihre Weitsicht verlieren.
Frank Schaeffel, Professor am Forschungsinstitut für Augenheilkunde der Universität Tübingen, kennt die Zahlen. „Man kann mit großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass es immer mehr Kurzsichtige geben wird. Es gibt eine sehr bekannte Studie, die wird viel zitiert, nach der in 2050 etwa die Hälfte der Weltbevölkerung schon kurzsichtig sein soll.“
Manche sprechen von einem Kurzsichtigkeitsboom, andere von einer Epidemie. Doch die weltweite Entwicklung ist nicht nur ein kosmetisches Problem, das sich mit neuen Brillen oder Kontaktlinsen relativ unkompliziert lösen lässt. Bei starker Kurzsichtigkeit kann das Auge ernsthaft krank werden. Ruth Forschbach musste das Anfang der 2000er-Jahre am eigenen Leib erfahren. Im Alltag konnte die Kölnerin ihre Kurzsichtigkeit mit Brillen und Kontaktlinsen zwar gut meistern. Doch das änderte sich schlagartig von einem Tag auf den nächsten.
„Und dann plötzlich vor 2003, das ist jetzt schon fast 18 Jahre her, bemerkte ich morgens, dass man Seheindruck ein gänzlich anderer war. Das heißt, mit anderen Worten: Auf dem rechten Auge zeigte sich das, als hätte ich so eine postmoderne Malerei vor mir. Sie müssen sich das so vorstellen: Sie haben ein Bild, schneiden das in mehrere Puzzle und legen das versetzt zusammen. Ich habe dann meine Kontaktlinsen noch mal gereinigt, wusste aber, daran lag es bestimmt nicht und habe dann die Augenarztpraxis angerufen: ‚Ja sofort herkommen, augenärztlicher Notfall‘.“
Schlimmstenfalls droht das Erblinden
Durch die starke Kurzsichtigkeit hatte sich in Ruth Forschbachs rechtem Auge die Netzhaut abgelöst. Wenn das passiert, sprechen Forschende von einer degenerativen Myopie. Weil sich bei der Kurzsichtigkeit der Augapfel verlängert, verstärken sich die Zugkräfte auf die Netzhaut, auch Retina genannt. Das ist die Schicht, in der die Sinneszellen sitzen.
Stäbchen und Zäpfchen genannte Zellen, die das Licht einfangen und den Seheindruck an das Gehirn übermitteln. Wird der Zug auf die Netzhaut zu stark, kann sie sich von der darunterliegenden Schicht ablösen. Dann werden die Nervenzellen in der Retina nicht mehr mit Nährstoffen versorgt. Ohne schnelle Hilfe erblinden die Betroffenen.
„Im Jahr 2003 gab es keine Therapie für diesen Prozess. Wenn es gute Tage sind, gute Lichtverhältnisse vor allem sind, dann sehe ich rechts auf dem Auge so ungefähr 15 Prozent. Ich kann mit dem Auge nicht mehr lesen, weil der Vorfall ist in der Makula, also an der Stelle des schärfsten Sehens und nur damit können wir ja lesen. In der Peripherie kann ich mich orientieren. Das ist, als wenn ich Ihnen jetzt auf Ihre Brille einen Fettfleck mache, genau in der Mitte. Dann sehen Sie in der Mitte nichts mehr, aber Sie haben ja, wenn Sie das Auge ruhig haben, trotzdem noch einen peripheren Sinneseindruck. Und so ist es bei mir.“
Ruth Forschbach hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Doch eine Zeit lang befürchtet sie, ihre Sehkraft auch auf dem linken Auge zu verlieren.
Unser Alltag fördert das Sehproblem
„Ich war damals Referentin in einem Werk mit über 600 Beschäftigten und als die Ärztin mir die Diagnose stellte und dann auch sagte, dass in über der Hälfte aller Fälle das andere Auge auch betroffen ist. Das heißt, ich hatte dann die Fantasie: Oh Gott, in einem halben Jahr oder wann – wie ist das, wenn du da jetzt nichts mehr siehst, nichts mehr leisten kannst und dann habe ich Hilfe gesucht. Habe nach Menschen gesucht, die mir helfen können.“
Ruth Forschbach hat Glück gehabt. Ihr linkes Auge ist gesund geblieben. Doch kurzsichtigen Menschen drohen weitere Probleme. Das sogenannte Kammerwasser des Auges kann schlechter abfließen, sodass sich der Augeninnendruck schneller erhöht. Die Folge kann ein Glaukom sein, eine Form des Grünen Stars, bei der der Sehnerv geschädigt wird.
„Wenn man sieht, wie kritisch hohe Kurzsichtigkeit ist für das Sehvermögen, werden die Leute sich mit der Zeit auch mehr überlegen, ob es ihnen das wert ist. Insofern glaube ich, mit zunehmender Aufklärung, dass eben gerade die Kurzsichtigkeiten über minus fünf, minus sechs, die zeigen eine starke Zunahme, dass man bereits im mittleren Lebensalter eine Netzhaut-Degeneration entwickelt, die auch zur Blindheit führt.
Und diese hohen Myopien auf hohem Niveau sind eben auch massiv im Kommen, sodass man eine große Anzahl von Personen erwarten wird, die eben tatsächlich im mittleren Lebensalter schon ihre Sehschärfe in der Mitte komplett verlieren. Die sogenannte myope Makula-Degeneration ist das Problem, was da sich zeigen wird.“
Was hat die Ausbildungslänge mit dem Thema zu tun?
Der heutige Alltag stellt unsere Augen vor eine harte Probe: Noch in der Steinzeit war es ein Überlebensvorteil, wenn wir nahende Feinde in weiten Landschaften erkennen konnten oder mühelos Beutetiere erspähten. Inzwischen muss das Auge andere Herausforderungen meistern: stundenlanges Daddeln auf Smartphones, Computerarbeit und Lesen auf kurze Entfernungen. Um zu überleben, sind andere Fähigkeiten gefragt: Lesen, Lernen, Bildschirmarbeit.
Das meiste Geld verdienen Menschen, die sehr gut ausgebildet sind. Doch je länger und je früher Kinder in die Schule gehen, umso größer ist die Gefahr, dass ihre Augen darunter leiden.
„Was man ganz sicher sagen kann, ist: Die Ausbildung, also der Ausbildungsstatus, hat einen großen Einfluss auf die Kurzsichtigkeit und man kann ganz gut korrelieren: Die Jahre der Ausbildung mit dem mittleren Kurzsichtigkeitswert. Und da kommt heraus, dass man etwa pro Jahr Studium oder Schule etwa eine Viertel Dioptrien kurzsichtiger wird, über die ganze Bevölkerung gemittelt. Das ist die beste und sauberste Korrelation eigentlich in der Biografieforschung.“
Besonders eindrücklich können Forschende diesen Trend in Ostasien beobachten. Eine gute Schulbildung gilt in Ländern wie China, Südkorea oder Taiwan inzwischen als wichtigste Voraussetzung für einen guten Start ins Leben. Das Ausbildungsniveau der Jugendlichen hat sich dort in den vergangenen 20 Jahren massiv gesteigert.
Viele Eltern schicken ihre Kinder schon vor der ersten Klasse in Vorschulen, in denen sie auf das spätere Lernen vorbereitet werden. Doch dieser Trend hat fatale Folgen für die Weitsicht der Kinder. In der südkoreanischen Hauptstadt Seoul beispielsweise sind inzwischen bis zu 95 Prozent der unter 20-Jährigen kurzsichtig. In anderen asiatischen Staaten mit hohem Ausbildungsstatus sind die Zahlen ähnlich dramatisch angestiegen.
„Weltweit kann man sagen: Die Kurzsichtigkeit nimmt immer weiter zu, je weiter die Ausbildungsstandards steigen. Die Hauptzuwachsraten, die waren tatsächlich schon vor 2000. Da ist vor allem in Asien die Kurzsichtigkeit von 20 auf 80 Prozent in manchen Gebieten gestiegen. In Deutschland ist es so, dass die Zahlen eigentlich seit 2000 keine großartige weitere Entwicklung gemacht haben. Allerdings hatten wir nach dem Zweiten Weltkrieg, in den ersten 50 Jahren bis 2000, eben auch einen sehr starken Anstieg der Kurzsichtigkeit.“
Nur ein verschwindend geringer Teil der Jugendlichen hat die Kurzsichtigkeit von den Eltern geerbt. Die meisten entwickeln eine sogenannte Schulmyopie – eine Kurzsichtigkeit, für die die Weichen in der Kindheit gelegt werden.
„Die meisten Kurzsichtigkeiten, jetzt gerade in Europa, die beginnen zwischen acht und 15. Das ist so das typische Altersfenster, wo die Kurzsichtigkeit anfängt.“
Inzwischen weiß die Forschung: Wenn sich bei Kindern das Auge vor allem an das Sehen in der Nähe anpasst, also zum Beispiel, um beim Lesen Buchstaben erkennen zu können, dann passt sich der Augapfel daran an. Er wächst in die Länge, um die nahen Bilder auf der Netzhaut bequemer scharf abbilden zu können. Langfristig führt das jedoch dazu, dass sich die Hornhaut und die Linse weiter von der Netzhaut entfernen. Dadurch verschiebt sich der Brennpunkt einfallender Lichtstrahlen weiter nach vorne. Und deshalb werden weiter entfernt liegende Gegenstände unscharf abgebildet.
Je weiter das Auge in die Länge wächst, desto kurzsichtiger werden wir. Doch warum der Augapfel immer weiter in die Länge wächst, ist für Frank Schaeffel auch nach vielen Jahren Forschung ein Rätsel.
„Für mich ist als Myopie-Frage das Wichtigste erst mal: Warum wird ein Kind überhaupt kurzsichtig, obwohl es kein unscharfes Bild auf der Netzhaut hat. Das ist schon mal von vornherein komisch. Weil, wenn die Schärfenebene vorne oder hinten liegt, wächst das Auge schneller oder langsamer. Aber die Kinder haben ja nie eine Brille auf von Anfang an. Die haben also ein scharfes Bild auf der Netzhaut. Warum wächst das Auge anders?“
Noch weitere ungelöste Fragen
Ein weiteres interessantes Phänomen: Das Auge wächst nur in der Kindheit in die Länge. Gegensteuern lässt sich also nur bei jungen Menschen. Und je früher die Probleme anfangen, umso größer werden sie.
„Man kann sicher sagen, wenn einer schon in der ersten oder zweiten Klasse kurzsichtig wird, das sind die Kandidaten, die mit hoher Kurzsichtigkeit enden. Und die sind natürlich dauernd in einem besonderen Risikobereich bezüglich späterer Augenprobleme, sagen wir es mal so. Je später die Kurzsichtigkeit anfängt, desto geringer ist der Endwert am Ende, wenn man erwachsen ist.“
Klar ist aber auch: Unsere neuen Freizeitgewohnheiten verschärfen das Problem. Vor allem Stubenhocker und Computernerds sind Myopie-Kandidaten.
„Was ganz sicher für die Kurzsichtigkeit ungeeignet oder schlecht ist, ist, wenn man immer drinnen sitzt mit kurzem Sehabstand. Zum Beispiel den ganzen Tag Computerspiele auf kurze Entfernung – das ist sicher nicht das Optimum.“
Doch lässt sich dieser Trend aufhalten?
Der australische Forscher Ian Morgan von der Australian National University in Canberra begann schon Anfang der 2000er-Jahre, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Eine Sache, die ihm auffiel: Auch australische Kinder gehen schon sehr früh in die Schule. Dennoch werden sie seltener kurzsichtig als Gleichaltrige in Asien.
„In Australien sind etwa 20 Prozent der Jugendlichen kurzsichtig, wenn sie ihren Schulabschluss machen. Das sind nicht besonders viele. Aber in Ostasien – also in China, Japan, Südkorea und Singapur, liegt dieser Prozentsatz inzwischen bei 80 Prozent. Uns ist dann vor allem ein Unterschied aufgefallen: Bei uns spielt sich das Leben viel mehr draußen ab, die Kinder sind bei uns in Australien mehr an der frischen Luft als in Ostasien. Deshalb überlegten wir, ob es vielleicht etwas damit zu tun hat.“
Um diesen Zusammenhang genauer zu untersuchen, führten Ian Morgan und sein Team 2009 eine Studie durch. An mehreren chinesischen Schulen verordneten sie den Kindern in der ersten und zweiten Klasse täglich eine extra Unterrichtsstunde im Freien.
„In China bleiben die Kinder in der Pause meist in ihren Klassenräumen. Und das wird noch dadurch verstärkt, dass es unter Lehrern und den Schulbehörden die Haltung gibt, dass es gefährlich ist, die Kinder draußen spielen zu lassen. Das gilt auch für den Sportunterricht, der meistens drinnen stattfindet. Außerdem wird der Sportunterricht kurz vor den Prüfungen oft gestrichen, damit die Kinder mehr lernen können. Und all das wirkt sich enorm auf die Gesundheit der SchülerInnen aus.“
Die verordnete Extrazeit im Freien zeigte schon nach kurzer Zeit einen Effekt. Von den 900 untersuchten Schülern wurden nur 30 Prozent mit neun oder zehn Jahren kurzsichtig. In der Kontrollgruppe, die im Klassenzimmer blieb, waren es 40 Prozent. Die Experimente wurden über einen Zeitraum von drei Jahren durchgeführt. Doch ein Effekt lässt sich schon nach relativ kurzer Zeit beobachten, sagt der Tübinger Forscher Frank Schaeffel.
Kurzsichtigkeit schreitet im Winter voran
„Was interessant ist: Immer, wenn man das Fortschreiten der Myopie über das Jahr untersucht, dann stellt man fest, dass die im Sommer immer langsamer fortschreitet als im Winter. In Monatskategorien kann man auf jeden Fall rechnen. Und in Asien gab es jetzt eine neue Studie, die war in Bezug auf den Corona-Lockdown. Da wurde festgestellt, dass die Kinder, die letztes Jahr von Januar bis Mai zum Beispiel hauptsächlich im Lockdown nur drinnen waren, dass die am Ende 0,3 Dioptrien kurzsichtiger waren, als die Kinder in den Jahren vorher im gleichen Zeitraum geworden sind. Innerhalb von Monaten kann man da durchaus etwas bewegen.“
Wie kann der Aufenthalt im Freien verhindern, dass Kinder kurzsichtig werden? Britische Forschende vermuteten zunächst, dass das Vitamin D hier eine Rolle spielt. Denn dieses Spurenelement wird in der Haut gebildet, wenn Tageslicht darauf scheint. Doch Ian Morgan und sein Team hatten eine andere Theorie.
„Unsere Hypothese war, dass das Tageslicht die Retina, also die Netzhaut, anregt, Dopamin freizusetzen. Dopamin verhindert, dass das Auge in die Länge wächst und das wiederum verhindert, dass das Auge kurzsichtig wird. Und beide Phänomene waren in der Forschung bereits gut dokumentiert.“
Mittlerweile ist Ian Morgans Hypothese durch viele weitere Studien bestätigt worden. Und es hat sich gezeigt: Diesen Effekt gibt es auch bei Tieren. Wenn Forschende bei Hühnern die Wirkung des Dopamins im Auge hemmen, werden die Tiere kurzsichtig. Auch, wenn sie viel Zeit im Freien verbringen.
Frank Schaeffel: „Mit dem Licht ist die gegenwärtige Hypothese weiterhin: Je mehr Licht man auf die Netzhaut bringt, desto mehr Dopamin wird freigesetzt aus der Netzhaut. Das kann man supergut messen, jetzt nicht bei Menschen, da kann man es nicht messen, aber bei jedem Tiermodell. Und das wurde schon 1989 gefunden, dass hohe Dopaminspiegel auf das Augenwachstum hemmend wirken. Das war eigentlich die erste Studie, wo man einen Netzhaut-Transmitter gefunden hat, der etwas mit Kurzsichtigkeit zu tun hatte. Darum war das damals eine ganz wichtige Studie.“
Strahlung und optimales Augenwachstum
Interessant ist: Nicht alle Augen reagieren gleichermaßen auf das angebotene Licht. Je nach Tierart steuern offenbar andere Wellenlängen des Sonnenlichts das Wachstum des Auges.
„Es ist witzigerweise so, dass bei Hühnern und Meerschweinen rotes Licht eher Kurzsichtigkeit erzeugt. Aber dann gab es Studien bei Rhesusaffen in Houston, dass mit langwelligem Licht die Augen tatsächlich kürzer bleiben. Also genau in die andere Richtung. Und es gibt auch noch eine andere Affenstudie bei sogenannten Tupajas, die sehen eigentlich eher aus wie Ratten, aber dennoch da war auch das rote Licht eher ein Wachstumshemmer“, sagt er.
„Und gegenwärtig weiß man nur: Das optimale Augenwachstum kriegt man, wenn das gesamte Spektrum da ist. Also wenn ich einen Teil nur herausschneide, ein paar Wellenlängen im roten Bereich oder im blauen, das mag kein Auge. Da wächst jedes Auge irgendwie falsch. Und die Natur hat einfach die Macht, die bietet eben das gesamte Sonnenspektrum. Das kann man sagen.“
Die einfachste und effektivste Gegenmaßnahme ist also, Kinder und Jugendliche in den Pausen immer auf den Schulhof zu schicken. Auch in den Ferien sollten sie so viel wie möglich draußen spielen. Wissenschaftliche Studien bestätigen das. Sie haben gezeigt: Zwei Stunden Tageslicht täglich minimieren das Risiko, kurzsichtig zu werden. Doch heute sind Kinder und Jugendliche kaum von ihren Smartphones und Computerspielen wegzubringen. In Asien kommt ein gesellschaftliches Problem hinzu, gibt Ian Morgan zu bedenken.
„Es gibt ein Phänomen, das kulturell tief verankert ist. In Asien will kaum jemand raus in die Sonne gehen. Die genauen Gründe dafür zu finden, ist schwer. Ich denke, es liegt daran, dass Frauen mit der hellsten Hautfarbe als besonders attraktiv gelten, weil sie nicht in der Sonne arbeiten müssen. Die Kombination dieses Phänomens mit diesem enormen Druck auf Schüler, gute Noten zu haben und die Tatsache, dass Kinder schon in der Vorschule Hausaufgaben bekommen, führt dazu, dass in China so viele Kinder kurzsichtig werden.“
Sehstörung kann ein Sicherheitsrisiko sein
Die Myopie hat sich in Ostasien zu einer regelrechten Pandemie entwickelt. Die Zahl kurzsichtiger Kinder ist dort so dramatisch angestiegen, dass sich inzwischen sogar die Gesundheitsbehörden mit diesem Phänomen beschäftigen.
„Ein chinesischer Ökonom hat es mal kalkuliert: Allein die Kosten dafür, kurzsichtige Kinder mit Brillen oder anderen optischen Hilfsmitteln auszustatten, liegen inzwischen bei einem bis zwei Prozent des Bruttosozialprodukts. Und hier geht es wirklich nur um die Kosten für optische Hilfsmittel. Nicht um die Ausgaben für Folgeerkrankungen, die durch die Kurzsichtigkeit entstehen. Und wenn eine Regierung solche Zahlen hört: Zwei Prozent des Bruttosozialprodukts, dann werden sie hellhörig und fangen an, sich Gedanken zu machen.“
Nicht immer geht es jedoch nur um die Gesundheit der Bevölkerung und die damit verbundenen Kosten, die eine Regierung zum Handeln zwingen. In Taiwan hat sich die Kurzsichtigkeit unter jungen Männern zu einem nationalen Sicherheitsproblem entwickelt.
„Taiwan ist das Problem aus einer anderen Richtung angegangen. Sie haben festgestellt, dass ihre Soldaten viel kurzsichtiger sind als die in China. Und falls China versuchen sollte, Taiwan in einem militärischen Angriff wieder zurückzuerobern – war der Gedanke: Was wäre, wenn das an einem, regnerischen Tag passiert und die eigenen Soldaten nichts mehr sehen, weil ihre Brillen beschlagen. Und aus diesem Grund ist diese Problematik sehr schnell auf oberster Regierungsebene angekommen.“
In vielen Schulen wurden nun Unterrichtsstunden im Freien eingeführt.
„Das wurde jetzt aktiv angegangen. Vor allem in Taiwan ist da ein Vorreiter, die haben also verlangt, dass die Kinder zwei Stunden am Tag rausgehen und aufgrund dieser Intervention hat man schon deutliche Rückgänge der Myopie beobachtet seit etwa 2010.“
Eltern setzen auf Augentropfen
Viele Eltern versuchen inzwischen, selbst aktiv zu verhindern, dass ihr Kind kurzsichtig wird. Anstatt ihre Kinder aber mehrere Stunden täglich vor die Tür zu schicken, bekommen einige Schüler Augentropfen, die verhindern sollen, dass das Auge in die Länge wächst. Diese Tropfen enthalten Atropin, eine Substanz, die aus der Tollkirsche gewonnen wird. Atropin wird schon lange bei Augenuntersuchungen eingesetzt, um die Pupillen zu weiten. „Belladonna“ wird die Verbindung aufgrund dieser Wirkung auch genannt – denn früher nutzen Frauen diese Substanz, um ihre Pupillen zu weiten und ihre Augen dadurch zu verschönern. Doch „Belladonna“ sorgt auch für mehr Weitsicht.
„Atropin ist da der große Renner. Das ist tatsächlich das älteste Pharmakon, das gefunden wurde, das die Kurzsichtigkeit hemmen kann. Das war schon 1850 etwa entdeckt worden, dass die Kinder, wenn die Atropin-Augentropfen bekommen haben, dass dann die Kurzsichtigkeit langsamer oder gar nicht mehr fortschreitet. Allerdings haben die damals hohe Dosen getropft, sodass die Pupille riesig war und die Kinder haben nicht mehr scharf in der Nähe gesehen. Das kann man heute nicht mehr so vertreten.“
Forschende aus Singapur haben vor ein paar Jahren die Lösung für dieses Problem gefunden: Sie haben das Atropin immer weiter verdünnt. Irgendwann verschwanden die Nebenwirkungen.
„Darum ist gegenwärtig der Stand, dass man Atropin zwar jetzt wieder verwendet, aber mit deutlich niedrigerer Konzentrierung.“
Doch perfekt ist diese Prävention nicht, gibt Frank Schaeffel zu bedenken.
„Die Pharmakologie hat auch ihre Tücken. Ich meine, wenn die Kinder große Pupillen kriegen von dem Atropin und dann blendet es sie draußen und dann brennen die Tropfen… Da gibt es viele Sachen, die limitierend sind. Und Atropin, muss man auch sagen, ist komplett unspezifisch. Kein Mensch weiß, wie Atropin genau wirkt, wenn es die Kurzsichtigkeit hemmt. Obwohl da viel geforscht wird. Aber das hat so viele verschiedene Angriffspunkte und man weiß nicht genau, welcher ist jetzt der relevante oder sind die alle zusammen die wichtigen Angriffspunkte.“
Bringen spezielle Linsen etwas?
Neben Augentropfen greifen Eltern in Asien daher noch zu anderen Maßnahmen, um zu verhindern, dass ihre Kinder stark kurzsichtig werden: Spezielle Linsen, die die Hornhaut verformen. Sie werden nachts getragen und üben im Schlaf einen leichten Druck auf die Hornhaut aus. Diese verformt sich dadurch leicht und gleicht die Kurzsichtigkeit bis zu einem gewissen Grad wieder aus.
Allerdings sind diese Linsen teuer. Sie kosten um die 600 Euro und müssen jedes Jahr erneuert werden. Eine weitere Möglichkeit sind sogenannte multifokale Kontaktlinsen. Diese Linsen gaukeln dem Auge vor, dass es auf einer anderen Ebene scharf sieht. Das verhindert, dass das Auge in die Länge wächst.
Dieses Prinzip haben Frank Schaeffel und sein Team vor einigen Jahren entdeckt. In Tierversuchen konnten sie zeigen: Wenn man Hühnern diese speziellen Linsen aufsetzt, wird das Längenwachstum des Augapfels gestoppt.
„Die Hühnerexperimente mit Linsen waren damals sehr wichtig. Die haben das erste Mal gezeigt, dass das Auge in beide Richtungen unterschiedlich wachsen kann. Wenn ich die Ebene, wo das Bild scharf ist, vor die Netzhaut lege, dann wird das Auge feststellen: ´Oh, ich bin zu lang.` Wenn man jetzt von ‚ich‘ sprechen kann. Und das hemmt tatsächlich auch das Längenwachstum und das Auge wird kürzer. Und wenn man die Linse dann runternimmt, ist das Tier weitsichtig. Weil es eben ein zu kurzes Auge hat“, erklärt er.
„Wenn ich aber eine Streulinse vor das Auge setze, dann wird die Brandebene oder die Schärfenebene hinter die Netzhaut verlegt und das Auge strengt sich dann an, die Ebene wieder einzufangen, und wird dadurch länger. Und das hat damals das erste Mal gezeigt, dass das Augenlängen-Wachstum über einen durch Sehen gesteuerten Regelkreis wirklich geregelt wird. Das Auge wächst ganz genau nach dem, wo gerade die beste Bildschärfe ist. Und das war nicht in der Form bekannt.“
Was am besten hilft
2020 hat eine Studie aus den USA gezeigt: Multifokale Kontaktlinsen können das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit verlangsamen. Doch sie haben ebenfalls Nachteile: Die Kinder sehen mit diesen Linsen unscharf. Außerdem können sie die Myopie nur aufhalten, nicht verhindern.
„Diese ganzen Interventionen, die man gegenwärtig hat, also Therapievorschläge, die erreichen alle eine Hemmung von weniger als 50 Prozent im ersten Jahr. Aber bis heute hat es keiner geschafft, die Myopie wirklich aufzuhalten. Das heißt, wir haben den zentralen Knackpunkt noch nicht erwischt. Weil, wenn ich das Fehlersignal, was dem Auge sagt: ‚Wachs immer weiter‘, wenn ich das genau kenne, dann müsste das Auge eigentlich komplett aufhören, zu wachsen, wenn ich das richtig mache. Aber das ist nicht gelungen, darum weiß man: Hier gibt es doch noch etwas zu tun.“
Klar ist aber: Das beste Rezept gegen die Kurzsichtigkeit ist auch das billigste: Viel Zeit im Freien verbringen und den Blick so oft wie möglich in die Ferne schweifen lassen. Wer diesen Rat schon als Kind befolgt, hat gute Chancen, die Weitsicht zu behalten.
„Die beste Methode wäre natürlich: Wir gehen wieder raus in den Wald und dann ist auch fast keiner mehr kurzsichtig. Das ist auch sicher. Die Naturvölker, die haben ein oder zwei Prozent Kurzsichtigkeit und die ist dann jeweils auch von Geburt an da. Es ist also komplett angeboren, aber die haben keine umweltbedingte Kurzsichtigkeit, das ist ja unser Hauptproblem.“
Frühzeitig vorbeugen
Ruth Forschbach ist in den 1960er-Jahren aufgewachsen. Damals war die Schulmyopie, also die umweltbedingte Myopie, noch kaum ein Thema. Doch schon als junger Mensch wurde ihr bewusst, dass die Kurzsichtigkeit ihr Leben beeinflussen würde. Auf dem rechten Auge hat sie ihre Sehkraft weitgehend verloren. Nun möchte sie andere vor diesem Schicksal bewahren.
„Das Auge ist die Kamera, die Netzhaut ist der Film. Und wenn der Film kaputt ist, dann nützt auch die schönste Brille nichts, es ist einfach im Eimer. Und ich habe nach Menschen gesucht, die mir helfen können. Und bei der ‚pro Retina‘ gab es eine Ansprechpartnerin, die sich dem Thema aus eigener Betroffenheit angenommen hat und ich habe gedacht, das muss man vorantreiben.“
„Pro Retina“ ist ein Selbsthilfeverein für Menschen mit Netzhautdegeneration, der 2020 eine bundesweite Informationskampagne gestartet hat. Mit Infomaterial und Vorträgen sollen Eltern, Ärzte und Fachleute in Kindertagesstätten und Schulen über die Kurzsichtigkeit aufgeklärt werden. Gegen ihre eigene starke Kurzsichtigkeit kann Ruth Forschbach zwar nichts mehr tun. Doch bei „pro Retina“ setzt sie sich dafür ein, dass Kinder und Jugendliche ihre Weitsicht möglichst lange bewahren.
„Sie können selbst bei mir, bei dieser angeborenen Kurzsichtigkeit, präventiv vorsorgen. Sie können die Kurzsichtigkeit nicht wegzaubern, wenn sie einmal da ist, ist sie da. Aber Sie können – oder die Menschen, die Kinder, beziehungsweise die Eltern oder Erziehungsberechtigten – die können vielleicht dafür sorgen, dass sie nicht so rasant zunimmt. Oder dass sie zumindest ein bisschen gehemmt wird. Und das ist mein Anliegen. Denn wenn es einmal da ist: Sie können den Augapfel nicht mehr zurückschieben oder die Kurzsichtigkeit minimieren, das geht nicht.“
Autorin: Christine Westerhaus, veröffentlich am 21.07.2022 von Deutschlandfunk (weitere Infos unter https://www.deutschlandfunkkultur.de/sehstoerung-des-auges-immer-mehr-kinder-werden-kurzsichtig-100.html )