Möchten Sie die Darstellung der Website ihren persönlichen Bedürfnissen anpassen?
Die Einstellungen können Sie auch später noch über das Symbol ändern.

Zum Inhalt springen

Politische Jugendbildungsreise der PRO RETINA 2025: Zwischen Kunst, Kultur und Politik

Oder in über 80.000 Schritten durch Berlin

Vom 21.09.2025 bis zum 26.09.2025 fand zum zweiten Mal die politische Jugendbildungsreise der PRO RETINA Deutschland e. V. statt. Diese wurde von der Projektreferentin Zehra Wellmann-Sam, vom Projektkoordinator Hakan Cetinyilmaz von der PRO RETINA Interessenvertretung in Berlin sowie Sylvester Sachse-Schüler als Mitarbeiter der Geschäftsstelle organisiert. Insgesamt nahmen zehn junge Menschen im Alter von 15 bis 28 Jahren sowie ihre Begleitpersonen aus ganz Deutschland an der Reise teil. Sie waren in dieser Woche zusammengekommen, um sich auszutauschen, Berlin zu erkunden und mit Politikerinnen ins Gespräch zu kommen mit dem Ziel, ihre Interessen als von Blindheit und Sehbehinderungen Betroffene in die Politik und die Öffentlichkeit zu tragen. 

Sonntag, 21.09.2025

Am Sonntag machten wir uns auf den Weg nach Berlin, wo wir trotz Berlin-Marathon gegen Mittag einigermaßen pünktlich ankamen. Für ein erstes Kennenlernen trafen wir uns in der Interessenvertretung und stärkten uns anschließend mit Pizza und kalten Getränken für den Tag. Einige von uns waren aus der Region Hamburg angereist, andere kamen aus Düsseldorf, Stuttgart, Würzburg und Wiesbaden. Die kürzeste Anreise hatten Jan und Claudio - direkt aus Berlin. „Ich war letztes Jahr schon mit dabei und es hat mir so gut gefallen, dass ich dieses Jahr wieder dabei sein wollte“, erzählt Claudio. Nach dem Check-In im Hotel nahe der Interessenvertretung der PRO RETINA machten wir einen Spaziergang zum Bundestag, wo uns eine exklusive Tastführung erwartete. Dort begrüßte uns Irmtraud Lambertsen-Gandolf, die uns in den nächsten zwei Stunden fachkundig mit viel Witz durch das Gebäude führte. Ein besonderes Highlight war der Besuch des Plenarsaals, den wir nicht nur von der Besuchertribüne aus erkundeten: Die Polizei öffnete uns die Türen zum Saal, sodass wir hautnah erlebten, wie es sich anfühlt, auf den Plätzen der Abgeordneten, des Bundespräsidenten oder des Bundeskanzlers zu sitzen. Das war für uns alle eine besonders außergewöhnliche Erfahrung, die wir nicht so schnell vergessen werden. Darüber hinaus erzählte uns Frau Lambertsen viele spannende Details über den Bundestag und seine Geschichte. Wir entdeckten eine Bibliothek mit Sitzungsmitschriften, aber auch echte Kuriositäten wie zum Beispiel ein Kunstwerk im Andachtsraum, dass aus hunderten verbogenen Nägeln besteht. Damit wir den Reichstag und seine Umgebung im wahrsten Sinne des Wortes besser begreifen konnten, zeigte uns Frau Lambertsen mehrere Tastmodelle. „Für mich ist das ganz großartig, weil es mir die Möglichkeit gibt, Dinge mit anderen anders zu sehen“, sagte Sie nach der Führung begeistert. Anschließend ging es noch in die Kuppel, die wir mit Audioguide und Tastkoffer selbstständig besichtigen konnten. 

Montag, 22.09.2025

Nach dem Frühstück kamen wir in der Interessenvertretung zusammen, um uns besser kennenzulernen und gemeinsam an Themen zu arbeiten, die wir in der Woche mit den Politikerinnen besprechen wollten. Als Grundlage hierfür diente uns ein Forderungspapier von Claudio, das er bereits im Nachgang zur letzten Bildungsreise erstellt hatte. Schnell stellte sich heraus, dass ein Großteil der Gruppe Schwierigkeiten mit der Beantragung von Hilfsmitteln und Leistungen bei Kostenträgern hat. Weitere Themen waren inklusive Bildung und Arbeitswelt, medizinische Versorgung bei Netzhauterkrankungen sowie Barrierefreiheit im öffentlichen Raum. Nach diesen intensiven Gesprächen gingen wir am Brandenburger Tor und Berliner Fernsehturm vorbei zum Deutschen Historischen Museum. Dort lernten wir die Geschichte Deutschlands aus einer anderen Perspektive kennen. In der Ausstellung „Roads not Taken oder es hätte alles anders kommen können“ ging es darum, was passiert wäre, wenn damals andere Entscheidungen getroffen worden wären. „Das Museum war richtig toll“, schwärmte Teilnehmerin Carla nach dem Besuch. Sie war nicht die Einzige 😉.

Dienstag, 23.09.2025

Der Dienstag war der längste und intensivste Tag der gesamten Reise. Zuerst trafen wir uns mit zwei Vertreterinnen der Allianz Seltener Chronischer Erkrankungen (ACHSE e.V.), die von PRO RETINA vor 21 Jahren mitbegründet wurde.  Gemeinsam verglichen wir unsere Forderungen an die Politik und bereiteten uns auf das Treffen mit den Bundestagsabgeordneten Linda Heitmann und Lisa Paus (beide Bündnis 90/Die Grünen) vor. Linda Heitmann engagiert sich vor allem im Bereich Gesundheitspolitik und Verbraucherschutz, macht sich in ihrer Arbeit aber auch für schnellere Diagnosewege und Patientenrechte bei seltenen Erkrankungen stark. Im Gespräch mit ihr berichtete eine Teilnehmerin davon, wie schwierig es ist, Medikamente zu bekommen, die ihr bei ihrer Augenerkrankung helfen könnten, aber noch nicht für diese zugelassen seien. Anschließend nahm sich die ehemalige Bundesfamilienministerin Lisa Paus Zeit für uns. Gemeinsam diskutierten wir über Themen wie Barrierefreiheit und Arbeitsassistenz. 

Nach den intensiven politischen Gesprächen wurde es Zeit für uns, mal selbst zu Politikern und Politikerinnen zu werden. Und zwar im Rahmen eines Rollenspiels im Deutschen Dom. Dazu verteilte man uns auf die Parteien im Deutschen Bundestag, woraufhin wir uns Argumente aus der Sicht der jeweiligen Partei für oder gegen ein soziales Pflichtjahr für junge Menschen überlegten. Bei den Abschlussreden der „Parteien“ wuchsen einige Teilnehmende über sich hinaus und machten deutlich, dass auch sie eine starke Stimme haben. 

Der Tag endete mit einem Abendessen und dem Cabaret „Das Berlin Musical“ im Tipi am Kanzleramt. „Das Musical hat mir sehr gut gefallen“, resümierte Teilnehmerin Nina anschließend.

Mittwoch, 24.09.2025

Nach so viel Politik hatten wir am Mittwoch etwas Zeit, um die kulturelle Seite Berlins kennenzulernen. Als Erstes stand eine Tastführung in der Berlinischen Galerie auf dem Programm. Hier lernten wir, dass man Kunst mit allen Sinnen begreifen kann. Ein Tastbild zeigte zum Beispiel eine Tänzerin, die ein Kleid aus echtem Tüll trug. So kam es der visuellen Wahrnehmung sehr nahe. Wir lauschten aber auch Bildbeschreibungen und erschufen zum Abschluss unser eigenes, imaginäres Gemälde. „Ich fand die Tastführung in der Berlinischen Galerie total interessant, weil ich vorher gar nicht wusste, dass es Tastbilder gibt“, sagte Assistentin Nancy. 

Weiter ging es dann zur Komischen Oper. Vor Ort blickten wir zusammen mit Berenice Fisk hinter die Kulissen des Schillertheaters und machten ein paar theaterpädagogische Spiele. So wurden wir zu einer menschlichen Jukebox und lernten mit einem einfachen Klatschspiel, wie wichtig Dirigenten und Dirigentinnen für ein Orchester sind. Am Ende des Tages hatten wir etwas Freizeit, in der wir den Kudamm und das berühmte KaDeWe besuchten, bevor wir den Tag bei einem gemütlichen Abendessen ausklingen ließen.

Donnerstag, 25.09.2025

Am Donnerstagvormittag bereiteten wir uns in der Interessenvertretung auf das Treffen mit Simone Borchardt (CDU) vor. Da Frau Borchardt in der Vergangenheit vor allem im Bereich Krankenkasse und Pflege gearbeitet hat, ging es im Gespräch schwerpunktmäßig um die Bewilligungspraxis der Krankenkassen und weiterer Kostenträger, die Anträge auf Hilfsmittel zunächst kategorisch abzulehnen scheinen. Aber auch Themen wie Sensibilisierung für unsere Belange als Menschen mit Seheinschränkung, Bürokratieabbau und Gesundheitsversorgung boten ausreichend Gesprächsstoff. Zudem besuchten wir an diesem Tag eine Plenardebatte im Bundestag zum Bundeshaushalt, bei der wir hautnah mitbekamen, wie Politik gemacht wird. Am Abend nahmen wir außerdem an der Mitgliederversammlung der Arbeitsgruppe (AG) Selbst Aktiv der SPD Berlin teil, bei der wir nicht nur zuhörten, sondern uns auch aktiv einbrachten. Im anschließenden Gespräch mit Mechthild Rawert, ehemalige Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende der AG Selbst Aktiv, und einigen weiteren Mitgliedern der Arbeitsgruppe erfuhren wir, wie wichtig es ist, selbst für seine Belange einzustehen. Frau Rawert ermutigte uns, uns politisch stark zu machen und Möglichkeiten wahrzunehmen, um uns Gehör zu verschaffen. „Ich fand es sehr schön, mit den Politikerinnen zu sprechen, da sie uns zugehört und unsere Forderungen dann auch aufgenommen haben. Das hat mir gezeigt, dass es sehr wichtig ist, sich auszutauschen und gehört zu werden“, beschreibt Claudio seine Eindrücke. 

Freitag, 26.09.2025

Der Freitag bildete den Abschluss der politischen Jugendbildungsreise nach Berlin. 

Nach dem Frühstück checkten wir aus dem Hotel aus und besuchten anschließend den Bundesrat. Nach einem Kurzvortrag über die Arbeit dieses Gremiums durften wir für etwa 45 Minuten bei einer Bundesratssitzung zuhören. Besonders beeindruckend war der Unterschied zwischen einer Sitzung im Bundesrat und im Bundestag: Während im Bundestag lebhaft und nicht immer auf Augenhöhe diskutiert wird, gibt es im Bundesrat nur kurze Wortbeiträge. Anschließend stimmen die Mitglieder durch Handzeichen über das jeweilige Thema ab.

Und dann wurde es schon langsam Zeit, die Woche Revue passieren zu lassen und uns voneinander zu verabschieden. „Mein persönliches Highlight der Woche war definitiv die Gruppe. Alle waren super lieb und herzlich und ich habe mich sofort wohlgefühlt“, erzählt Gretel und lächelt. Assistent Patrick fällt es nicht so leicht, ein konkretes Highlight zu benennen: „Ich könnte jetzt kein einziges Ding ausmachen, das mir besonders gut gefallen hat, weil alles so besonders war.“ 

Unser Fazit: Es war eine tolle Reise mit einem abwechslungsreichen Programm, vielen lieben Menschen und neuen Einblicken und Erfahrungen. Einige von uns möchten sich auch in Zukunft engagieren, um die eigenen Interessen öffentlich zu vertreten. Aber wir haben uns auch fest vorgenommen, dass wir uns auf jeden Fall wiedersehen möchten – spätestens bei der nächsten politischen Jugendbildungsreise.

— Ein Reisebericht von Carina Tillmann