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Artikel: Blinde treffen ins Schwarze
Mittwoch, 12. Oktober 2022, Offenbach-Post Ostkreis / Rodgau Schließen
Weiskirchen – Mitten ins Schwarze treffen ohne hinzusehen – mit reichlich Übung und den richtigen Hilfsmitteln kann das Kunststück sogar Blinden gelingen. Zu sehen war die spezielle Variante des Schießsports am Wochenende in der Halle der TG Weiskirchen, wo Pro Retina Hürden abräumte.
Hürdenlauf zählte zwar nicht zum Programm, das der Arbeitskreis Sport der bundesweit aktiven Selbsthilfeaktion anlässlich der Woche des Sehens in Szene gesetzt hatte. Joggen, walken oder Marathon laufen können sehbehinderte Menschen freilich durchaus – etwa mit Unterstützung des Guide-Netzwerks, das Hans Reinhard Hupe und Juliana Löffler in den vergangenen Jahren aufgebaut haben. Das Konzept ist denkbar einfach: Über eine Internet-Plattform finden Sportler mit begrenztem oder gänzlich fehlendem Sehvermögen Unterstützer in ihrer Nähe, die mit ihnen als Begleiter mit Hand- oder Armkontakt auf die Strecke gehen. Keine Vereinsbindung, keine Kosten – nutzen können das Netzwerk alle, denen nach Bewegung ist.
Über 500 Guides haben sich laut Julia Löffler seit dem Start im vergangenen Jahr schon registriert, Tendenz weiter steigend. Unlängst sei die Gruppe beim Köln-Marathon mit 35 blinden Läufern an den Start gegangen. „Über den Sport zurück ins Leben“, skizziert sie den Grundgedanken. Aktuell gebe es Überlegungen, das Angebot auf nordische Ski-Sportarten auszudehnen.
Auch in andere Richtungen werden Hindernisse, die Sehbehinderten mit sportlichen Ambitionen im Weg stehen, stetig durchlässiger. Schon seit Jahren setzt Anja Dehoff, die die Regionalgruppe Offenbach-Rodgau bei Pro Retina leitet, in ihrer Arbeit mit sehbehinderten Kindern ein Tischballspiel mit Banden um eine 3,40 Meter lange Gleitfläche ein. Dehoff war es auch, die den Sport-Arbeitskreis ihrer Organisation anlässlich der bundesweiten Woche des Sehens nach Weiskirchen holte. Dankbar ist sie nach eigenem Worten der Turngemeinde, die ihre Räume an der Hauptstraße bereitwillig zur Verfügung gestellt habe: „Einen Verein zu finden, der da mitspielt, ist nicht ganz einfach.“
Dabei eigneten sich einige der Angebote am Samstag und Sonntag durchaus nicht nur für Sehbehinderte. Ausgerüstet mit einer Dunkelbrille konnten Besucher mit normalem Sehvermögen an einer Kletterwand testen, wie sich der Aufstieg allein mit dem Tastsinn und Gleichgewicht bewältigen lässt. Ertasten und erraten ließen sich auch Gegenstände in einem Karton – ein Baustein, ein Spielzeugauto, ein Luftballon oder eine Engelsfigur.
Wer wollte, konnte sich von Hans Reinhard Hupes Blindenhund führen lassen. Sehr speziell, technisch aufwendig und zudem nicht billig: die Schießausrüstung, die sich freilich auf jedem gewöhnlichen Luftgewehr-Schießstand verwenden lässt. Auf der Sportwaffe sitzt eine Sensor-Kamera, die die Scheibe anpeilt und den blinden Schützen mit Tönen über Kopfhörer ins Ziel lotst. Auf einem Bildschirm kann ein sehender Begleiter mitfiebern.
Mit Aktionen wie dem Sportwochenende will Pro Retina, deren aktuell gut 100 Mitglieder in Stadt und Kreis Offenbach zumeist an Netzhauterkrankungen wie der altersbedingten Makula-Degeneration (AMD) oder Retinitis Pigmentosa (RP) leiden, laut Anja Dehoff nicht zuletzt Verständnis für deren Alltagsprobleme wecken. Beratung für Betroffene und Angehörige spielte denn auch eine wichtige Rolle bei der Veranstaltung. Tatkräftige Unterstützung bekam die Gruppe nicht zuletzt von den Familien der Jugendfußballer, die an beiden Tagen nebenan auf dem TG-Sportplatz kickten: Laut Dehoff stifteten zahlreiche Mütter spontan selbst gebackene Kuchen und andere Leckereien, viele halfen darüber hinaus beim Verkauf.