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Anja Dehoff hat eine Netzhauterkrankung und trainiert beim Showdown Sportclub Erlensee

Anja Dehoff spielt mit einer weiteren Person Showdown im Sportclub
Showdown ist eine Mischung aus Tischtennis und Airhockey und wird blind gespielt: Zwei Spieler treten an einem Tisch gegeneinander an und versuchen, mit einem Schläger einen Hartplastikball ins gegnerische Tor zu befördern. © Sabine Müller

Normalerweise fährt Anja Dehoff mit ihrem Mann im Auto von Rodgau zum Training beim Showdown Sportclub Erlensee. An diesem Donnerstag hat sie den Zug nach Hanau genommen, wollte dann mit dem Bus weiterfahren, doch aufgrund des Zeitungsinterviews wurde der Plan etwas abgeändert. Zweimal die Woche steht die 44-Jährige im Erlenseer Bürgerhaus „Zum neuen Löwen“ an der Platte und schmettert den Ball – natürlich möglichst ins gegnerische Tor. Wohin er fliegt, sieht sie allerdings nicht: Showdown ist zwar eine Sportart für alle, sie wird jedoch mit verbundenen Augen gespielt und in erster Linie von Blinden und Sehbehinderten ausgeübt.

Erlensee - Anja Dehoff ist mit einem Blindenstock unterwegs, um sich außerhalb ihrer vier Wände zu orientieren. Ihre Diagnose lautet Zapfen-Stäbchen-Dystrophie: eine genetisch bedingte Netzhauterkrankung, die das Sehvermögen stark reduziert und das Gesichtsfeld eingeschränkt.

Geboren ist sie in Offenbach, in Rodgau-Jügesheim aufgewachsen. Die Krankheit habe im Grundschulalter begonnen, berichtet sie im HA-Gespräch. „Mit neun Jahren habe ich eine Brille bekommen, bis dahin saß ich in der Schule in der letzten Reihe.“

Die Eltern waren wohl nur Träger des für die Krankheit verantwortlichen Gens

Ironischerweise hatte der Besuch beim Augenarzt beziehungsweise Optiker vorab eigentlich ihrem Bruder gegolten. „Ich habe mich damals geärgert, weil ich die blöde Brille bekam und er nicht.“ Dass dies nur der Anfang von Anjas Erblindung war, ahnte damals noch niemand in der Familie, denn die Eltern waren wohl nur Träger des verantwortlichen Gens. „Ich wurde dann geküsst“, sagt sie heute frank und frei über jene Beeinträchtigung, die ihr Leben fortan in bestimmte Bahnen lenkte.

Der erste Verdacht lautete Retinitis pigmentosa (RP), auch „Tunnelblick“ genannt, bei dem man nur noch gezielte Bereiche fokussieren kann, und der bei ihr mit einer leichten Nachtblindheit einherging. Die damals 16-Jährige hatte die Mittlere Reife in der Tasche und wägte die Optionen ab, welche Ausbildung wo möglich ist. Schließlich ging sie mit ihrem damaligen Freund – er ist seit 25 Jahren ihr Ehemann – nach Mannheim, wo sie den Beruf der Industriekauffrau erlernen konnte. Andere Wünsche hatten sich damals bereits zerschlagen, berichtet Anja Dehoff, und erinnert sich daran, dass sie als junges Mädchen noch mit einem Grafikdesign-Studium, Optikerin oder Rechtsanwaltsfachangestellter „geliebäugelt“ hatte. „Das ging dann aber alles nicht.“ Zudem war schnell klar, dass sie nie selbst Auto fahren wird. „Der Professor sagte mir allerdings auch: "Komplett blind werden Sie nicht."“

Lesen und Fahrradfahren muss sie aufgrund ihrer Sehschwäche schon bald aufgeben

In den folgenden Jahrzehnten erkennt Anja Dehoff, „dass blind nicht gleich blind ist“, dass ihre Erkrankung in Schüben einhergeht, und auch die Hormone eine Rolle spielen. „Ich habe schon sehr früh nicht mehr gelesen, weil es ohne Hilfsmittel so anstrengend war.“ Mit etwa 16 Jahren gibt sie das Fahrradfahren auf. Auch die Geburten ihrer beiden Söhne bewirken Veränderungen ihres Sehvermögens. „Im Alltag bemerkt man die Verschlechterungen gar nicht so schnell, und das Gehirn ist schlau.“ Seit etwa fünf Jahren ist sie ausdiagnostiziert. Damit ist klar, dass sie keinen „Tunnelblick“ mehr hat, sondern die Zapfen-Stäbchen-Dystrophie. „Ich kann nicht mehr genau fokussieren und nur ein bisschen mehr als Umrisse erkennen. Außerdem haben wir Netzhauterkrankten das Problem mit der Lichtbrechung.“ Die 44-Jährige ist sehr lichtempfindlich und benutzt Brillen mit speziellen Filtergläsern, um die Symptome zu lindern.

Auch wenn sie glücklicherweise die einzige in der Familie ist mit einer Seheinschränkung – ihr Mann versuche derzeit, sich an seine erste Lesebrille zu gewöhnen, sagt Anja Dehoff schmunzelnd – könne man doch „relativ gut damit leben“. Sie sei schon immer kreativ gewesen und habe versucht, Wege und Lösungen für ihre Situation zu finden. So ist sie seit ihrem 16. Lebensjahr bei Pro Retina, in Deutschland die älteste und größte Selbsthilfevereinigung für Menschen mit Netzhauterkrankungen, und engagiert sich seit 2018 aktiv. „Dort sind Gleichgesinnte für den Austausch und man bekommt Tipps zu den verschiedenen Problematiken“, sagt Anja Dehoff, die inzwischen in der Regionalleitung für die Bereiche Offenbach, Rodgau und Hanau ehrenamtlich tätig ist. Zudem ist sie Mitglied beim Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) sowie beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV).

Es gibt viele Unterstützungsmöglichkeiten, Hilfsmittel und Tricks, die den Alltag erleichtern

Um selbstbestimmt leben zu können, gibt es heute eine Vielzahl an Unterstützungsmöglichkeiten, Hilfsmitteln und Tricks, die den Alltag erleichtern, weiß Anja Dehoff, die jetzt bei der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) in der Niederlassung Rodgau Ansprechpartnerin für Betroffene und Angehörige ist. Auch eine blindentechnische Grundausbildung in Frankfurt hat sie absolviert, nutzt den PC und das Smartphone mit Sprachausgabe, hat sich in die Blindenschrift vertieft, verwendet zum Kochen und Backen eine sprechende Waage und Messbecher mit Farben. „Herd und Waschmaschine können zwar nicht sprechen, haben aber Knöpfe statt eines Touchscreens“, berichtet sie. Dass Blinde besser hören, bestätigt sie nicht. „Sie nutzen ihr Gehör aber anders.“ Etwa mit Schnalzlauten zur Orientierung: Am zurückgeworfenen Echo erkennen sie, wie ihre Umgebung gestaltet ist und können dabei sogar Gegenstände wie Bäume oder Autos unterscheiden.

Anja Dehoff mit abgedeckten Augen beim Showndown spielen
Anja Dehoff trainiert zweimal die Woche beim SSC Erlensee und fungiert darüber hinaus als zweite Vorsitzende des kleinen Vereins. © Sabine Müller

Der regelmäßige Sport beim Showdown Sportclub Erlensee – „wie Tischtennis für Blinde“ – ist für die Rodgauerin wie Schwimmen ein guter Ausgleich zur Arbeit, seitdem Joggen nur noch in Begleitung oder auf dem Laufband möglich ist. Dehoff fungiert als zweite Vorsitzende und spielt jetzt in der A-Liga. Ihr Highlight in diesem Jahr war die Teilnahme an den World Games in Birmingham, zusammen mit einem weiteren Spieler des SSC Erlensee. (Von Sabine Müller)

SSC Erlensee

Die Stadt Erlensee stellt dem Showdown Sportclub Erlensee (SSC) seit 2016 das Bürgerhaus „Zum neuen Löwen“ fürs Training und für Turniere kostenfrei zur Verfügung. „Das ist nicht selbstverständlich, aber sehr hilfreich, da es keine Paralympische Sportart ist und es nicht viel finanzielle Unterstützung gibt“, informiert Anja Dehoff. Aktuell zählt der Verein 15 Mitglieder, davon sechs aktive Spielerinnen und Spieler. Auch der Ehemann von Anja Dehoff ist Vereinsmitglied, er fungiert als Schiedsrichter – weitere werden dringend gesucht, wirbt Dehoff. Der Blindensport Tischball wird auf einer Showdown-Platte überwiegend von Blinden und Sehbehinderten ausgeübt, wobei ein tennisballgroßer Hartplastikball mit Metallkügelchen, der bis zu 140 Stundenkilometer schnell werden kann, im Einsatz ist.