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"Mobilität mal ganz anders"
Quelle: von Till Kronsfoth, Rhein Lahn Zeitung Diez, 2.09.2023
Mit 2 Prozent Sehkraft am Steuer
Unser Redakteur wagte sich beim ADAC-Fahrtraining für Blinde und Sehbehinderte auf den Parcours
Rheinland-Pfalz. Der Motor heultt
auf, als ich das Gaspedal durchtrete.
Der Wagen schießt nach
vorn. „Bremsen!“, ruft mein Beifahrer.
Ich mache eine Vollbremsung,
steige voll in die Eisen. Das
ABS schlägt an, die Reifen knirschen
auf dem unebenen Pflaster.
Mein Beifahrer und ich werden
nach vorn in die Gurte geschleudert.
Kurz bleibt mir die Luft weg.
Dann steht das Fahrzeug.
Im normalen Straßenverkehr
hätte ich mit einem solchen Manöver
vielleicht einen schweren
Verkehrsunfall ausgelöst: Denn ich
habe eine Sehleistung von 2 Prozent
und besitze daher keinen Führerschein.
Hier, auf dem weitläufigen
Gelände der Gneisenau-Kaserne
in Koblenz an einem Sonntagmittag,
ist das kein Problem.
Auf Initiative der Selbsthilfeorganisation
PRO RETINA, eines Vereins
für Menschen mit degenerativen
Netzhauterkrankungen, hat der
ADAC Mittelrhein ein Fahrtraining
für Blinde und Sehbehinderte
organisiert.
Stephan Heym von PRO RETINA
erzählt: „Viele Leute hatten früher
einen Führerschein, bevor sie erblindet
sind. Und dann ist es
schön, das wieder erleben zu können.“
Das trifft auch auf Wolfgang
Schweinfurth zu: „Als ich mich hinters
Steuer gesetzt habe, war es
wie nach Hause zu kommen. Aber
als ich in den Wagen mit Automatikgetriebe
gestiegen bin, habe
ich die ganze Zeit die Kupplung gesucht“,
sagt er. 1987 hat Wolfgang
Schweinfurth den Führerschein
gemacht. Mehr als 20 Jahre
lang fuhr er Auto, bis er überraschend
die Diagnose Retinitis
Pigmentosa bekam. „Seit 2017 ist
alles dunkel“, erklärt er.
Der Kontakt zwischen PRO RETINA
und dem ADAC besteht bereits
seit zehn Jahren, als schon
einmal eine gemeinsame Fahrstunde
für Blinde und Sehbehinderte
organisiert wurde.
„Als PRO RETINA mit der Bitte auf uns zukam,
haben wir keinen Moment
lang gezögert, das hier zu ermöglichen“,
sagt Herbert Fuss, Abteilungsleiter
Verkehr und Technik beim ADAC Mittelrhein. „Auch
der Kommandant der Gneisenau-
Kaserne war sofort begeistert von der Idee."
Die Fahrzeuge wurden
uns von der Fahrschule Jänsch in
Lahnstein zur Verfügung gestellt.
Ups, ein großer Container 50 Meter voraus
Ich nehme am Steuer des ersten
der beiden Wagen Platz, die ich
heute fahren werde.
„Du sitzt in einem Ford“, erklärt mir Herbert
Fuss, der mich bei meiner ersten
Fahrstunde begleitet. „Mustang?“,
frage ich hoffnungsvoll. „Ja, klar!“,
witzelt er. „Nein, Focus.“ Meine
Hand fährt zum Schalthebel. Fühlt
sich irgendwie komisch an. „Das
ist ein Automatikgetriebe“, erklärt
der Experte.
„Ach, wie unsportlich!“,
scherze ich, als ob ich Ahnung
hätte. Doch das Lachen wird
mir schon in der nächsten Minute
gründlich vergehen. Kaum sind
wir losgefahren, sagt Herbert Fuss:
„In etwa 50 Metern kommt uns
ein großer Container entgegen.“ Ups, denke ich. Den hätte ich
glatt mitgenommen.
Als ich sechs Jahre alt war, wurde bei mir eine Zapfen-Stäbchen-
Dystrophie diagnostiziert. Eine
Krankheit, bei der die Zellen der
Netzhaut nach und nach absterben,
allen voran die Zellen für
das Scharfsehen.
In einem Feature für den Hessischen Rundfunk, das
ich vor einigen Jahren produzierte,
wollte ich für Normalsehende
beschreiben, wie ich Dinge visuell
wahrnehme. „Das ist, als würdest
du durch eine beschlagene Fensterscheibe
gucken“, hatte ich damals
gesagt. Seitdem hat sich meine
Sehleistung zwar noch ein
Stück weit verschlechtert, es ist jedoch
nach wie vor der beste Vergleich,
der mir einfällt, um Menschen
zu beschreiben, wie ich
sehe.
Im konkreten Fall führt das dazu,
dass ich am Steuer des Focus
zwar noch die Straße vor mir sehen
kann, aber nicht, wo sie endet
oder ob ich zu weit am Rand
fahre. Oder ob sich mir plötzlich
ein riesiger Müllcontainer in den
Weg schiebt.
„Sanft bremsen“, ertönt die sonore Stimme neben mir.
Ich bremse unbeabsichtigt heftig,
sodass wir nach vorn gedrückt werden
und der Motor ausgeht.
„Das wäre dann mein fünftes Hämatom
heute“, sagt Herbert Fuss lakonisch
vom Beifahrersitz. „Sorry!“,
entgegne ich peinlich berührt.
„Habe ich ihn abgewürgt?“ „Den
kannst du durch die Start-Stopp-
Automatik gar nicht abwürgen“, werde ich aufgeklärt.
Dann geht es mit präzisen Kommandos weiter:
„Gleich leicht links, danach
scharf rechts.“ Durch die Start-Stopp-Automatik
und die fehlende Kupplung habe
ich die Assoziation mit Autoscooter.
Nach einer Runde ums Kasernengelände und der oben erwähnten Vollbremsung steigen wir
aus.
Mein nächstes Fahrzeug ist
ein A3 mit Schaltgetriebe, und ich
freue mich auf den Vergleich.
Während der Pause tauscht man
sich bei Brötchen und Fleischwurst auch über andere Dinge
aus, die die Themen Auto und Sehbehinderung
betreffen.
Als ich sage:
„Auf meinem Grabstein wird eines Tages Tod durch E-Auto stehen“,
ernte ich ein eher verhaltenes Gelächter. Kein Wunder, denn
es war kein Scherz. Das Thema ist tatsächlich todernst. Elektroautos
sind viel zu leise, um sie
rechtzeitig per Gehör wahrnehmen zu können, selbst jene, die
mit den neuen Geräuschsimulatoren ausgestattet sind. Man hört
sie erst im Moment des Vorüberfahrens,
bei zusätzlichem Straßenlärm gar nicht. Wenn sich daran
nichts ändert, sind Verkehrstote
mit Sehbehinderung zukünftig so gut wie vorprogrammiert.
Anfahren am Berg, Slalom ohne Pylonen
Dann geht es weiter mit Wagen Nummer zwei. Ich merke sofort:
Bei einem Fahrzeug mit Schaltgetriebe
hat man viel mehr zu tun. Und hier würge ich den Motor
tatsächlich ab. Mehrfach! Auch
habe ich mir zuvor nie darüber Gedanken
gemacht, dass man bei verringerter
Geschwindigkeit in den
niedrigeren Gang schalten muss,
und wundere mich zunächst über
das Stottern des Motors in engen
Kurven. Ob daher wohl das Sprichwort
„Schalt mal einen Gang runter“
kommt, frage ich mich unwillkürlich.
Das Anfahren am Berg klappt hingegen überraschend gut.
Und der Slalom am Ende, bei
dem ich natürlich nicht um Pylonen herumfahre, sondern schnell
hintereinander das Lenkrad in
scharfen Kurven nach links und rechts herumreiße, macht noch
mal richtig Spaß.
Nach meiner zweiten Fahrt kommt Fotograf und Kameramann
Sascha Ditscher, der die Aufnahmen
für diesen Artikel gemacht hat, zu mir und bufft mich kumpelhaft
in die Seite: „Das hat doch
gut geklappt! Fürs nächste Mal
könnten wir uns noch etwas steigern.
Wie wäre es mit Düsenjetfliegen?“
„Erst mal Schießtraining bei der Bundeswehr“, entgegne
ich spontan. Lachend verlassen
wir das Kasernengelände.