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Selbstbestimmung in der Partnerschaft

Eine junge Frau sieht man von hinten über eine lange Hängebrücke wandern, sie trägt dabei Wanderkleidung. Die Landschaft im Hintergrund sind herbstgelbe Bäume.
Wir sind eine Brücke zwischen Forschung und Patienten

von Verena Reichel

In Vorbereitung auf diesen Artikel wollte ich mich zunächst dem Begriff und somit auch der Definition von „Selbstbestimmung“ nähern. Bei meiner Suche wurde ich unter anderem fündig bei der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). Selbstbestimmung ist ein Menschenrecht, das sogar im Grundgesetz verankert ist.

„Mit Selbstbestimmung ist gemeint, dass jeder Mensch selbst darüber entscheiden darf, wie er leben möchte. Diese Freiheit, über sein Leben selbst zu bestimmen, ist ein Menschenrecht, das auch durch unsere Verfassung geschützt wird.“ Im Auszug aus Art. 2, Abs. 1 GG, heißt es: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt.“ (zit. nach www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-junge-politiklexikon/321117/selbstbestimmung)

Doch was bedeutet das nun für mich und mein Leben, etwa als Angehörige eines Menschen mit einer Sehbehinderung? Letztendlich stehe ich so wie auch mein Partner in einem Lebenskontext, den ich mir möglicherweise nicht ausgesucht habe. Dieser bestimmt mein Handeln und definiert vor allem die Grenzen, die es für mich (uns) gibt. Fühle ich mich nun davon übervorteilt oder erlebe ich mich als Opfer dieser Bedingungen, kann dies in ein Ausagieren von sogenannten Psychodynamiken münden. Ich mache dann zum Beispiel meinem Partner unbewusst den Vorwurf, dass durch die Grenze (die Einschränkung aufgrund der Erkrankung) ein selbstbestimmtes Leben für mich nicht mehr möglich ist. Ich habe mich nicht mit den Bedingungen einverstanden erklärt und erlebe sie als zum Beispiel ungerecht.

Das ist eine verständliche und sicher auch natürliche Situation, habe ich mir doch vielleicht für unser gemeinsames Leben viele Dinge ausgemalt, die nun nicht möglich sind. Ebenso stehe ich als Angehörige im Kontext dessen, dass mein Partner in gewissen Dingen auf mich (meine Hilfe) angewiesen ist und es manchmal zwingende Gründe nicht erlauben, diese Hilfestellung einfach abzulehnen. Da möchte ich selbstbestimmt leben, werde aber eingeschränkt von den Gegebenheiten: Die Erkrankung ist nun einmal da und gewisse, damit verbundene Bedingungen sind nicht verhandelbar. Dadurch bin ich aufgefordert, dieses gemeinsame Schicksal anzunehmen und mich dazu zu positionieren – also die Grenze, welche die Erkrankung setzt, zu akzeptieren. Die Frage wird sein, ob ich mich angesichts dessen überfordert fühle oder auch die Freiheit erkenne und das Vertrauen in mich selbst habe, damit umgehen zu können.

Andererseits braucht es für ein selbstbestimmtes Leben als Angehörige in diesem Kontext nicht nur das Vertrauen in die eigene Person, sondern auch in den Partner – dass dieser mit der Erkrankung umgehen kann und es auch einen Raum für meine Bedürfnisse und Wünsche in dieser Beziehung gibt. Kann unsere Beziehung aushalten, dass ich als Angehörige mit diesen Bedingungen ein selbstbestimmtes Leben führen möchte? Dass ich zum Beispiel auch mich selbst ernst nehme, wenn ich merke, dass ich nun gerade mal nicht zur Verfügung stehen kann oder auch mal Zeit für mich brauche? Darf ich das auch und habe ich eine Gewissheit, dass dies bei meinem Partner auf einen guten Boden fällt? Dazu braucht es bei mir als Angehörige eine gewisse Achtsamkeit für den Blick nach innen: Was brauche ich auch gerade in dieser Situation? Was ist für mich nicht stimmig und womit bin ich nicht einverstanden? An welcher Stelle quält mich vielleicht aber auch das sogenannte schlechte Gewissen, wenn ich mal an mich denke? Gleichzeitig braucht es jedoch auch den Blick nach außen: Auf welche Lebenswirklichkeit oder Begrenzung trifft dies aber nun und wie kann es dennoch gelingen? Und nicht zuletzt den Blick auf den Partner und somit den Dialog: So geht es mir gerade, so geht es Dir gerade – wie wollen wir damit umgehen und wie können wir dies angesichts der Erkrankung in Einklang bringen?

Dieser Artikel kann sicherlich nur einen kleinen Impuls geben, die Vielschichtigkeit dieses Themas zu durchdringen – in dem jährlich stattfindenden Partnerseminar, das mein Mann Thomas Reichel und ich für die PRO RETINA planen und durchführen, gehen wir dieser Spur weiter nach, ebenso im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Online-Stammtische des Arbeitskreises für Angehörige. Ich freue mich, wenn wir uns bei der einen oder anderen Gelegenheit dazu weiter austauschen können und schließe mit einem Zitat von Viktor Frankl: „Menschliches Verhalten wird nie und nimmer von den Bedingungen diktiert, die der Mensch antrifft, sondern von Entscheidungen, die er selbst trifft.“ (Viktor E. Frankl)

Quellen:

Dr. Christoph Kolbe, Plenarvortrag: „Selbstannahme und Selbstvertrauen“, Existenzanalyse 33/2/2016

Frankl, Viktor E.: Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, Frankfurt am Main: Fischer

DIE AUTORIN Verena Reichel lebt zusammen mit ihrem Mann, der seit 2002 an Morbus Star-gardt erkrankt ist, in Braunschweig. Sie bietet ehrenamtlich über den AK Angehörige psychologische Begleitung (u. S.) an. Zusammen mit ihrem Mann Thomas, der Mitglied im Arbeitskreis Psychologische Beratung ist, leitet sie das Partnerseminar bei PRO RETINA.

Erschienen in der Retina aktuell, Nr. 166