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„Beim Design für Alle stehen attraktive Mehrwerte im Vordergrund, statt defizitorientierter Speziallösungen“

Auszug aus dem Schwerpunkt der Retina aktuell Nr. 176 “Design für Alle”
Von Redakteur Alexander Gumbert

Mathias Knigge ist Ingenieur und Produktdesigner, daneben Vorsitzender des Kompetenznetzwerks Design für Alle – Deutschland e. V. (EDAD) und Gründer von grauwert – Büro für Inklusion und demografiefeste Lösungen in Hamburg. Mit seinem Team berät er Unternehmen, führt Produkttests durch und vermittelt Wissen zum Thema Barrierefreiheit, zum Beispiel im Rahmen von Vorträgen und Workshops. Er beantwortete die Fragen der Redaktion.

Es sind unterschiedliche Begriffe im Umlauf: Accessible Design, Inclusive Design, Design for All, Universal Design. Worin liegen die Unterschiede? Gibt es welche?
Meiner Meinung ein sehr theoretisches und akademisches Anliegen. Es kann erörtert werden, nimmt aber viel Raum ein und ist meiner Ansicht nach nicht zielführend, da die Unterschiede nicht wesentlich sind. Viel wichtiger ist die Differenzierung zwischen Barrierefreiheit, Zugänglichkeit und Design für Alle. Die Barrierefreiheit wird meiner Ansicht nach klar definiert durch Normen, Gesetze und millimetergenauen Vorgaben. Die Zugänglichkeit ist viel besser differenzierbar, sowohl in verschiedene Zielgruppen (Hören, Sehen, Mobilität, Gebärden, Verstehen) als auch im Umfang, da Abstufungen beim Ausmaß der Zugänglichkeit möglich sind. Und dann ist da Design für Alle. Das Konzept dahinter stellt attraktive Mehrwerte in den Vordergrund, statt defizitorientierte Speziallösungen für wenige zu bieten.

Einfach gefragt: Wodurch definiert sich ein Design für Alle?
Barrierefreie Zugänglichkeit wird hier durch Lösungen ermöglicht, die attraktiv gestaltet und auch von Menschen ohne Einschränkungen als Mehrwert und Komfort erkannt werden. Daneben hat ein Design für Alle auch Menschen ohne Behinderung im Blick, daher sind Lösungen auch nicht immer für alle hundertprozentig barrierefrei. Planungen müssen in ihrer Gesamtheit gesehen werden. Zum Beispiel gibt es keine optimale Höhe für einen Schalter. Es gibt große Menschen, kleine Menschen, sitzende Menschen. Es sind also neue Ansätze gefragt. Das führt mich zu einem wichtigen Hinweis: Design für Alle hat nicht unbedingt eine einzige Lösung für alle Menschen vor Augen. Das Konzept fordert aber, dass möglichst alle in der Planung berücksichtigt werden und somit am Leben teilhaben können.

Was macht EDAD? Wofür setzt sich EDAD ein?
EDAD steht für Design für Alle – Deutschland e. V. Es ist das deutschlandweite Kompetenznetzwerk rund um das Thema Design für Alle. Wir beraten, informieren, forschen und vernetzen. Unser Ziel sind Produkte, Dienstleistungen und eine gebaute Umwelt, die besonders leicht und komfortabel nutzbar sind. Und zwar für alle Menschen, unabhängig von ihren Fähigkeiten und entsprechend ihrer Bedürfnisse. Dafür informiert und aktiviert EDAD die öffentliche Hand sowie Politik, Unternehmen und deren Verbände. Hochschulen und Ausbildungsstätten werden in Lehre und Forschung unterstützt. Außerdem setzt EDAD Best-Practice-Projekte um und kommuniziert diese öffentlichkeitswirksam.

Was sind für Sie gelungene Designbeispiele für Produkte, die auch von Menschen mit Seheinschränkungen und blinden Menschen optimal genutzt werden können? Mir fällt als Erstes die Salatschleuder ein mit einer Öffnung im Deckel, durch die das Wasser ablaufen kann und die mit Einhandbedienung funktioniert.
Ja, sowas ist eine praktische Lösung, von der viele profitieren. Aber es geht ja noch weiter:

  • Ein Aufzug, dessen Tasten taktil beschriftet sind und der mit einer freundlichen Ansage das Stockwerk mitteilt.
  • Das Smartphone, das inzwischen auf Knopfdruck komplett auf Tonausgabe und Gestensteuerung (VoiceOver/TalkBack) umgestellt werden kann.
  • Regelkonforme Webseiten, die der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) und dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) genügen und somit barrierefrei genutzt werden können – da gibt es gute Beispiele bei den öffentlichen Stellen.
  • Bei Anruf Kultur (www.beianrufkultur.de), ein Format, bei dem ein Guide durch eine Ausstellung geht und alles für die Zuhörenden am Telefon beschreibt – ähnlich einer Führung, nur dass die Gruppen von ca. 20 Personen daheim zuhören und sich auch gemeinsam über Kultur austauschen können. Und das kostenfrei.
  • Taktile Beschriftung (Profilschrift) an Handläufen, die kontrastreich von allen lesbar ist.
  • Stufenmarkierungen, die schon im Fertigbetonteil integriert sind.
  • Exponate zum Anfassen im Museum, wenn diese tatsächlich einen attraktiven Mehrwert für Besucherinnen und Besucher mit eingeschränktem Sehvermögen darstellen – zum Beispiel die Vergrößerung eines Details oder eine Materialprobe, die das Kunstwerk haptisch erfahrbar macht.

Was muss passieren, damit Produktentwickler die Bedürfnisse von Menschen mit Einschränkungen von Beginn an stärker einbeziehen? Späte Nachbesserungen sind doch immer teuer und ärgerlich.
Wie bei der vorhin genannten Treppe: Mit kontrastreichen Stufenmarkierungen und Handläufen auf beiden Seiten kann die Sicherheit für alle Nutzerinnen und Nutzer deutlich erhöht werden. Markierte Stufen haben viele Hersteller im Programm, trotzdem werden diese bei der Planung oft nicht berücksichtigt. Noch zu viele fragen sich: Was geht mich Inklusion an?
Sensibilisierung ist nötig, um die Auswirkungen von falschem Handeln zu zeigen und auf die besseren Alternativen im Handlungsrahmen aufmerksam zu machen. Damit das keine Theorie bleibt, muss Nähe und Begegnung zu Menschen mit Einschränkungen hergestellt werden. Wie sieht die Lebenswirklichkeit dieser Menschen aus? Es sollte klar herausgestellt werden, wer von den Maßnahmen profitiert und wer die Konsequenzen spürt, wenn nicht oder falsch gehandelt wird.

Es geht außerdem um die Wissensvermittlung: Wie sehen gute Lösungen und Prozesse aus? Attraktive Beispiele müssen kommuniziert werden, als Anregung für andere Beteiligte. Wichtig ist einfach, dass das Thema von Beginn an mitgedacht wird und klare Aufträge an die Beteiligten formuliert werden.

Herzlichen Dank für Ihre Zeit.