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Leben mit BBS: Brief an meinen Sohn Johann
Lieber Johann,
dieser Bericht soll anderen betroffenen Familien zeigen, wie wir mit der Diagnose BBS-Syndrom umgehen und wie wunderbar unser Leben mit dir ist.
In der Schwangerschaft mit dir war alles unkompliziert, du wurdest im März 2019 im Geburtshaus geboren und auf den ersten Blick warst du gesund. Die Hebamme zähle bei der Erstuntersuchung an beiden deiner Hände sechs Finger und an beiden deiner Füße sechs Zehen. Ich hielt das für einen Scherz, aber zählte dann selbst nach. Trotzdem warst du sonst ein ganz gewöhnliches Baby und wir gingen vier Stunden nach deiner Geburt gemeinsam nach Hause und lernten uns kennen.
Die Ärzte hielten die Überzahl deiner Finger und Zehen zunächst für eine Laune der Natur und da sonst absolut alles okay war, genossen wir einfach zusammen die Babyzeit und waren so glücklich, dass du endlich bei uns warst. Nach einigen Wochen spiegelte uns unser Umfeld wider, dass du „so extrem groß und kräftig“ seist, es kam mir als Mama selbst auch extrem vor, da du lediglich gestillt wurdest und niemand wusste, wieso du so schnell an Gewicht zunahmst. Die Ärzte waren weiterhin entspannt und alle Untersuchungen gaben uns keine Antwort auf die Fragen. Mit dir schien alles in Ordnung, du warst ein absolut witziges und tiefenentspanntes Baby.
Was mich als deine Mama sehr stark belastete, waren die Kommentare und Fragen aus unserem Umfeld. Als du sechs Monate alt warst, konnte ich dich nicht mehr lange tragen aufgrund deines Gewichtes. Ich weiß, dass es die meisten Menschen nicht böse meinten, aber es war unglaublich, was Menschen über dein Gewicht sagten. Es brach jedes Mal mein Herz und gleichzeitig wuchs meine innere Sicherheit, dass irgendetwas nicht normal sei und es einen Grund geben müsse. Meine Sehnsucht nach einer Erklärung war riesig und gleichzeitig wollte ich den Schmerz der Wahrheit nicht hören müssen.
Als ich Ende 2019 nicht mehr mit dir allein einkaufen gehen konnte (du hast nicht in die Sitze des Einkaufswagens gepasst aufgrund deines Körpers, Tragen ging auch nicht mehr mehrere Meter und die Suche nach einem Buggy für dich, in dem du gut liegen konntest, lief auch sehr schlecht), begann ich mich aufgrund aller Blicke und Fragen langsam aber sicher zu Hause mit dir zu isolieren. Ich entschied also, ak[v herauszufinden, was los sein könnte.
Durch Zufall, nachdem ich gefühlt alles über Handfehlstellungen und die Gründe für eine Überzahl an Fingern und Zehen gelesen hatte, landete ich auf der Instagram-Seite einer amerikanischen Mutter, dessen Sohn das BBS-Syndrom hat. Ich sah das Foto dieses Jungen und wusste sofort: Er hat das, was du auch hast.
Ich wusste es einfach. Es war einerseits erleichternd und andererseits, habe ich es kaum ausgehalten mehr über das BBS-Syndrom zu erfahren. Ich war mir zu 100% sicher und wenn ich eins gelernt habe, ist es, dass das Gefühl der Eltern niemals täuscht. Auch wenn es hart war, war es richtig, so hartnäckig bei den Ärzten zu bleiben. Manchmal stelle ich mir vor wie unser Leben wäre, wenn wir nicht wüssten, was du hast. Mit hoher Sicherheit wäre es viel schwerer.
Was nach meinem Internetfund folgte, ist mit Worten kaum zu beschreiben. In den nächsten Wochen bettelte ich bei Ärzten darum, dass sie eine Genanalyse von dir beauftragen. Leider wurde ich mehrfach abgewiesen, „das hat er niemals“, „dafür ist Ihr Sohn viel zu gut entwickelt“. Ich blieb hartnäckig und sagte dem Humanmediziner, dass ich wüsste, was du hast. Er soll bitte auf das BBS-Syndrom testen. Zahlreiche Tränen, schlaflose Nächte und kritische Gespräche später, mussten wir dein Blut beim Kinderarzt abnehmen lassen und anschließend eigenständig bei den Humanmedizinern im Klinikum unserer Stadt abgeben. Ich wusste, was herauskommt, es war alles wie ein schlechter Film, der an mir vorbeiraste. Die Blutproben in dieser durchsichtigen Plastiktüte und dich im Kindersitz auf der Rückbank im Auto sehe ich noch oft vor mir.
Im Juni 2020 erhielten wir Post, wir sollten bitte schnellstmöglich ins Klinikum kommen. Ich fuhr an diesem wirklich schönen Sommertag mit dir dorthin, du lagst bei dem Gespräch mit dem Arzt in deinem Buggy und hattest richtig gute Laune.
Der extrem unempathische Arzt knallte mir die Ergebnisse auf den Tisch mit den Worten: “Sowas habe ich ja auch noch nie erlebt. Dass Sie mir hier sagen wollten was ich zu testen habe. Nunja. Er hat es.“ Ich sagte nichts, die Tränen liefen mein Gesicht herunter. Ich sah dich an und du warst genau das gleiche Kind wie vor den Worten des Arztes. Auch wenn es seltsam klingt, ich hatte das Gefühl meine Mutterliebe wurde ab diesem Moment noch größer, der Wunsch dich zu beschützen war noch riesiger als zuvor. Der Arzt beendete das Gespräch mit den Worten: “Alles weitere besprechen Sie dann mit Ihrem Kinderarzt. Auf Wiedersehen“.
Was danach passierte, kann ich dir leider nicht mehr genau erzählen, da es sich anfühlte als würde unsere ganze Zukunft wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Wenn ich damals gewusst hätte, dass alles gut wird und du dich so unglaublich großartig entwickelst, ich hätte es nicht geglaubt. Glücklicherweise haben wir ein familiäres Umfeld, das Johann von Anfang an mit Liebe umhüllt hat und gleichzeitig diese Art der Trauer mit uns ausgehalten hat. Ohne meine zwei Schwestern hätte ich die Zeit nach der Diagnose nicht geschafft.
Wir fanden damals zeitnah Hilfe bei Pro Retina, vernetzten uns mit anderen Betroffenen und merkten: Das Leben ist nun nicht vorbei. Es ist anders, als wir es uns vorgestellt haben, aber in keiner Weise schlechter. Johann du bist das größte Geschenk was wir jemals bekommen durften und ich würde dich in keinem Leben mit einem anderen Kind tauschen wollen.
Wir ließen deine überzähligen Finger und Zehen in Berlin bei einer sehr guten Ärztin operieren. Die Operationen hast du super überstanden. Deine Nieren funktionieren zum Glück gut, darüber sind wir unendlich dankbar, wissen aber auch, dass sich dies aufgrund deines Gendefektes ändern kann. Deine Sehkraft ist inzwischen eingeschränkt, mit einer Brille bewältigst du deinen Alltag aber sehr gut. In der Dämmerung siehst du inzwischen sehr wenig und brauchst sehr viel Hilfe. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit wird deine Sehkraft immer weiter abnehmen, aber für dich ist das wenig Sehen selbstverständlich und du kennst es nicht anders. Die Sorge, dass du eines Tages so gut wie nichts mehr sehen kannst, sorgt für den größten Kloß in meinem Hals.
Es ist ein riesiges Privileg, dass du seit diesem Jahr eine Schule für Kinder mit Sehbehinderung besuchen kannst. Mithilfe deiner Teilhabeassistentin schaffst du deinen Schultag dort inzwischen richtig gut und bist ein fester Bestandteil deiner Klassengemeinschaft. Draußen bist du nicht so gerne, neue Situationen überfordern dich häufig und Dinge, die weiter entfernt sind, spielen für dich keine Rolle. Am liebsten spielst du Lego und bist in deiner gewohnten Umgebung.
Oftmals stelle ich mir die Frage: „Tue ich genug oder könnte ich dich mehr fördern?“. Es gibt ja immer noch etwas, was man noch machen könnte. Mein Ansatz ist inzwischen, du darfst Kind sein. Du darfst auch Tage haben, an denen du zu Hause deine Ruhe hast, du darfst auch mal einen Tag gar nichts müssen, keine Termine haben. Derzeit machen wir eine Therapiepause, damit du in Ruhe in deinem neuen Schulalltag ankommen kannst.
Mein Rat an alle Eltern nach einer derartigen Diagnose ist: Hört auf euer Bauchgefühl. Ihr wisst am besten, was ihr und euer Kind braucht. Lasst euch nicht von ErzieherInnen, LehrerInnen, Ärzten, Therapeuten sagen, was ihr tun müsst. Ihr müsst gar nichts. Atmet durch und schaut euch und euer Kind an, wie viel ihr schon geschafft habt, welch großartiges Team ihr seid und was ihr gemeinsam alles noch schaffen werdet.
Am Ende ist es doch das, worauf es ankommt: Geliebt werden und so angenommen werden, wie man ist.
Was mir persönlich sehr geholfen hat, ist zu akzeptieren was ist und keinen Groll über das zu hegen. Ich frage mich nicht mehr „warum mein Kind?“, sondern versuche mich auf all das Gute zu konzentrieren. Dankbar dafür zu sein, was du alles kannst, anstac auf die Defizite zu gucken. Selbstverständlich klappt das nicht immer und natürlich ist es trotzdem schwer. Mit diesem Bericht möchte ich keinesfalls verharmlosen, wie scheiße es an manchen Tagen ist. Dennoch ist es mir ein Anliegen, zu erzählen, dass unser Leben mit deiner Diagnose trotzdem wertvoll und großartig ist.
Deine Diagnose ist wie eine Wolke, die immer über uns schwirrt, manchmal ist sie dunkler und manchmal heller. Es gibt Tage, da ist sie fast verschwunden und an manchen regnet es. So wie in jeder Familie gibt es Höhen und Tiefen.
Für mich war es unheimlich wichtig einzusehen: Die Trauer ist völlig in Ordnung. Die Trauer über das was ich mir als Mutter ausgemalt habe. Die Trauer darüber, nun Mutter eines Kindes mit Behinderung zu sein. Die Angst vor all diesen Aufgaben. Die Angst, dass du ausgegrenzt werden könntest. All die Horrorszenarien, die in den schlaflosen Nächten in meinem Kopf herumspukten. Die Angst vor dem Wort BLIND. Die Angst davor, dass du niemals selbstständig werden könntest.
All das ist okay und mehr als verständlich. Niemand muss sich dafür schämen, denn diese Trauer bezieht sich niemals auf dich, Johann. Sie kommt auch immer mal wieder und ist vermutlich auch nie vorbei. Wenn ich am Tag, an dem ich von deiner BBS-Diagnose gewusst hätte, welche unglaublich schönen Begegnungen und Schätze ich dadurch in den nächsten Jahren gefunden hätte, ich hätte es nicht für möglich gehalten. Vermutlich habe ich dadurch erst den Sinn des Lebens verstanden und das meine ich absolut ernst.
Vor einiger Zeit sagte mir eine Freundin, dass sie überzeugt ist, dass es genau richtig ist, dass du mich als Mama hast und ich dich als Kind bekommen habe, exakt so wie du bist mit allem was dazu gehört. Früher hat mich dieses „Er hat zu euch als Eltern gefunden“ immer tierisch geärgert, weil es sich so locker anhörte: „Ach ihr schafft das ja schon.“ Inzwischen finde ich es aber sehr passend und bin sicher, dass Kinder es spüren, wenn wir Eltern die Haltung haben: Du gehörst genau hier hin.
In unserem Flur hängt eine Karte, auf der steht: Von allen Kindern würde ich mir immer wieder dich aussuchen.
Und das stimmt.
Deine Mama Katrin