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Gruppenfoto der 12 Wanderer. Jeder trägt ein neon gelbes PRO RETINA Schirt.
Gruppenfoto der 12 Wanderer. Jeder trägt ein neon gelbes PRO RETINA Schirt.
Letztes gemeinsames Abendmahl im Gasthaus Islitzer  bevor es los geht. Alle sitzen gemeindam en einer langen Tafel.
Letztes gemeinsames Abendmahl im Gasthaus Islitzer bevor es los geht. Alle sitzen gemeindam en einer langen Tafel.
Anne stellt beim Abendessen den Teilnehmern das gemeinsame Gruppenshirt vor. Es ist Neongelb. Vorne ist das Logo der Pro Retina und der Spruch "Don´t try, just Do it!" Auf der Rückseite ist sie Route mit den entsprechenden Höhenmetern bis zum Gipfel aufgezeichnet
Anne stellt beim Abendessen den Teilnehmern das gemeinsame Gruppenshirt vor. Es ist Neongelb. Vorne ist das Logo der Pro Retina und der Spruch "Don´t try, just Do it!" Auf der Rückseite ist sie Route mit den entsprechenden Höhenmetern bis zum Gipfel aufgezeichnet
Morgens vor dem Defregger Haus warten die Wanderer auf die Ausgbe der Kletterausrüstung bevor es los geht zum Gletcher.
Morgens vor dem Defregger Haus warten die Wanderer auf die Ausgbe der Kletterausrüstung bevor es los geht zum Gletcher.
Das Bild zeigt das zum Teil sehr unwegsamen felsigen Gelände.
Das Bild zeigt das zum Teil sehr unwegsamen felsigen Gelände.
Ein seheingeschränkter Wanderer beim Abseilen an einem Fels. Der Bergführer gibt Unterstütung.
Ein seheingeschränkter Wanderer beim Abseilen an einem Fels. Der Bergführer gibt Unterstütung.
Jubel am Gipfelkreuz. Im Hintergrund steht ein Bergführer und zeigt mit seinen Fingern das Viktoryzeichen. Ein V.
Jubel am Gipfelkreuz. Im Hintergrund steht ein Bergführer und zeigt mit seinen Fingern das Viktoryzeichen. Ein V.

 

 

 

 

 

 

Wenn der Berg ruft …
Sechs Menschen mit Seheinschränkung besteigen den 3.666 Meter hohen Gipfel des Großvenedigers – ein Erlebnisbericht von Anne Kinski, Leiterin des Arbeitskreises Sport von PRO RETINA

Quer durch Deutschland reisten sechs Menschen mit und sechs ohne Seheinschränkung an. Wir kannten uns größtenteils nur aus den vorangegangenen zwei Zoommeetings. Unsere geplante gemeinsame Unternehmung: den Gipfel des Großvenediger in 3667 Metern Höhe zu erreichen.

Erster Tag: 12.07.2024, 8:00 Uhr morgens vor unser Unterkunft Bergkristall
Wir verbrachten die Nacht gemeinsam mit unseren Tandempartnern (Guides) in kleinen, aber feinen Doppelzimmern und hatten Zeit, uns noch ein bisschen näher kennenzulernen. Gestärkt nach einem guten Frühstück sammelten wir uns vor unserer Unterkunft. Die Temperatur war angenehm. Grade richtig für den Start ins Abenteuer. Allerdings waren Regen und Gewitter für die Mittagszeit angesagt. 1640 Höhenmeter galt es zu überwinden, um unser Ziel, das Defregger Haus in 2963 Metern Höhe, zu erreichen.

Von wegen „einfacher Weg“
Nach ein paar Gruppenfotos und dem gemeinsamen Schlachtruf „Der Berg ruft! Drei, zwei, eins, go!“ setzte sich die Gruppe, mit ihren 6 Tandempaaren in Bewegung. Der Weg bis zur Johannishütte war als einfach beschrieben worden, denn auch ein Hüttentaxi fuhr regelmäßig Wanderer bis zur Hütte. Ein guter Weg zum Warmwerden und um auszuprobieren, wie man gemeinsam als Tandem am besten vorankommt. Doch die Route wurde schon nach wenigen Metern alles andere als einfach: Lockeres Gestein, schlammiger Untergrund, rutschige kleine Hänge kennzeichneten unseren Weg. Sollten wir gleich zu Beginn auf Abwege geraten sein? Wir sind doch der Beschilderung gefolgt. Bekanntlich führen viele Wege nach Rom, so auch zur Johannishütte. Wir checkten kurz unsere Position und nahmen Kurs auf den eigentlich geplanten Weg. Nach circa zweieinhalb Stunden erreichten wir die Johannishütte. Es regnete bereits und ein tiefes Grollen schien immer näher zu kommen. Wir beschlossen, in die Hütte einzukehren und abzuwarten, bis das gröbste Unwetter vorbei ist. Das Wetter in den Bergen ist unberechenbar. Wir wussten nicht wie lange es dauern würde. Noch immer lagen gute 800 Höhenmeter vor uns.

Blindvertrauend über Gebirgsbäche
Nach ungefähr eineinhalb Stunden Aufenthalt schien sich das Wetter zu beruhigen. Es regnete, doch wir mussten weiter. Der Weg war felsig, steil und voller loser Steine. Sehende wissen, wie sie ihre Füße für einen sicheren Stand setzen müssen. Aber wir als Betroffene konzentrierten uns ununterbrochen auf die Ansagen unserer Begleiter. „Jetzt Stufe, schräge Felsplatte, großer Schritt rechter Fuß jetzt Stufe, Achtung loser Stein“ und so weiter und so fort. Mehrmals mussten wir kleine Bäche überqueren – teilweise blindvertrauend springend von Stein zu Stein unter Ansage unserer Guides.

Grenzen erkennen
Immer mehr wurde uns bewusst: Alles, was wir jetzt hochgehen, müssen wir später auch wieder runtergehen. Jeder, der schon einmal vergleichbare Situationen erlebt hat, weiß, dass hochzufallen nicht annähernd so schlimm ist wie hinabzufallen. So entschloss sich unser erster blinder Wanderer schweren Herzens, die Tour an dieser Stelle abzubrechen. Er wurde sicher von einem unserer Guides zur Johannishütte zurückbegleitet und wartete dort auf uns bis zum darauffolgenden Tag. Hier sei gesagt: Die Entscheidung abzubrechen ist keine Schwäche. Sie erfordert Mut und eine besondere persönliche Stärke.

Über Schneefelder
Im weiteren Aufstieg erwarteten uns bereits erste Schneefelder, die wir queren mussten. Eine äußerst rutschige und nicht ungefährliche Angelegenheit. Die Tandems gingen dicht hintereinander und der seheingeschränkte Hintermann tappte in die Fußstapfen seines Vordermannes, um bestmögliche Stabilität zu erlangen. Es dauerte nicht lange und es zeigten sich erste Materialschwächen am Schuh eines unserer Guides. Die Sohle löste sich. Erst leicht und dann komplett. Not macht bekanntlich erfinderisch. Barfuß war keine Option, Ersatzschuhe, hat natürlich auch keiner dabei. Wer denkt schon an so was? Und mit Blasenpflaster lässt sich die Sohle auch nicht wieder festkleben. Davon hätten wir genug gehabt. Einer unserer Wanderer hatte Grödel, eine Art Schneeketten für Wanderschuhe, dabei. Sie waren die Rettung für den Moment.

Verschnaufpause im Defregger Haus
Um 19:32 Uhr erreichten wir das Defregger Haus. Die gesamte Crew nahm uns herzlich und sichtlich erleichtert in Empfang. Sie waren schon drauf und dran gewesen, die Bergrettung zu rufen, erzählte Hüttenwart Markus. Es tat uns leid, dass sie sich Sorgen gemacht hatten, nur hatte es für uns keine Möglichkeit gegeben, sie von unserer Verspätung zu unterrichten. Auf dem gesamten Weg gab es keinen Handyempfang. Aber nun waren wir ja da.

Anstrengende 10 Stunden Wanderung lagen hinter uns und ein köstliches 3-Gänge-Menü vor uns. Die Stimmung war super und der Gipfel schien in greifbarer Nähe zu sein. Unsere Bergführer, die bereits anwesend waren, gaben grünes Licht für den Aufstieg zum Gipfel am nächsten Tag. Das Wetter sollte uns wohlgesonnen sein und die sonst so gefährlichen Gletscherspalten waren, durch kürzlich gefallenen Schnee, verschlossen. Unserem Wanderer mit der abgelösten Sohle, wurde ein altes paar Wanderschuhe von einem der Crewmitglieder des Defregger Hauses ausgeliehen. „Etwas zu klein, aber wird schon gehen.“, so dachte er. Wir verabredeten uns für den nächsten Morgen 6 Uhr zum Frühstücken und 6:30 Uhr Treffen mit den Bergführern zum Anlegen der Ausrüstung.

Die Nacht war kurz und sehr laut. Ein schweres Gewitter und starker Wind hielten uns wach. Auf dem Flur war ständig Bewegung zu hören. Einer unserer Wanderer hatte mit starken Muskelkrämpfen zu kämpfen, die er durch Bewegung versuchte zu lösen – neben Kopfschmerzen, einer typischen Nebenwirkung bei abnehmendem Sauerstoffgehalt der Luft in zunehmender Höhe.

Zweiter Tag: 13.07.2024, 6:00 Uhr morgens
Es gab frisch gebackenes Brot. Gut gestärkt standen wir wie verabredet um 6:30 Uhr vor der Hütte, um unsere Ausrüstung in Empfang zu nehmen. Ein Klettergurt und für uns Menschen mit Sehbeeinträchtigung je ein paar Grödel für besseren Grip auf dem Gletscher. Das Seil und die Karabiner, womit wir später verbunden werden sollten, blieben vorerst bei den Bergführern.

Angeseilt über den Gletscher
Um 7 Uhr ging es dann endlich los. Es war kalt, nass und der Wind wehte kräftig. Wir gingen in den gewohnten Tandems erneut über Geröll und felsigem Gelände, welches zunehmend durch Schnee bedeckt wurde. Am Anseilplatz angekommen, wurden wir mit unseren Guides in zwei Gruppen aufgeteilt und durch ein Seil miteinander verbunden. Es gab auch noch eine dritte Seilschaft mit unserem Kamerateam und unserem Gastwanderer und Mitsponsor der Tour. Der Einstieg in den Gletscher konnte beginnen. Drei Stunden waren für den Aufstieg vorgesehen. Gute 700 Höhenmeter waren es bis zum Gipfel und weitere 1500 Höhenmeter wieder abwärts bis zur Johannishütte. Ein herausforderndes Tagespensum, das es zu bewältigen galt.

Die Seilschaften setzten sich in Bewegung. Schon bald zeichnete sich ab, dass sie unterschiedlich schnell vorankamen. Wir hatten es nun nicht mehr mit Geröll, losem Stein und rutschigem Fels zu tun. Dafür aber mit einer zum Teil sehr glatten und unterschiedlich festen Gletscheroberfläche. Ein Schritt vor, ein halber Schritt rutschend zurück. Auch die dünner werdende Luft machte sich zunehmend bemerkbar. Ein seltsames Gefühl, wenn man nicht mehr richtig durchatmen kann. Das Gefühl gähnen zu müssen, es ab nicht zu können. Wir warteten immer wieder aufeinander. Der Wind pfiff und die Kälte drang in unsere Glieder. Jetzt kam noch eine kleine Kletterpassage, an der wir uns mit Hilfe der Bergführer abseilen mussten.

Kurz vor dem Gipfel
Wir waren bereits über zwei Stunden unterwegs. Deutlich langsamer als geplant. Es blieben nur noch eine Stunde bis zum kritischen Umkehrzeitpunkt und noch 300 Höhenmeter bis zum Gipfel. Es mussten Entscheidungen getroffen werden. Die Wanderer, die es aufgrund ihrer Geschwindigkeit nicht in dieser Zeit bis zum Gipfel schaffen konnten, entschieden sich – im Sinne der Gruppe – umzukehren und den Rückweg zum Defregger Haus anzutreten. Für die drei Umkehrer war es eine schwere Entscheidung. Den anderen aber die Möglichkeit zu lassen, es bis zum Gipfelkreuz zu schaffen, machte es für den Moment erträglich.

Mit dem Lastenaufzug zurück
Gute zweieinhalb Stunden später waren wir alle wir wieder zusammen im Defregger Haus. Es regnete und der Abstieg zur Johannishütte stand uns noch bevor. Ein Weg, den wir vor nur einem Tag beschwerlich hinaufgegangen sind. Es war bereits 14 Uhr. Mittlerweile spürten es alle. Der eine mehr, der andere weniger. Erschöpfung mit einhergehender Unkonzentriertheit. Insbesondere unser Wanderer mit den ausgeliehenen zu kleinen Schuhen schmerzten seine Zehen im Abstieg zunehmend. Es kam, wie es kommen musste. Eine Möglichkeit tat sich auf. Ein seit zwei Jahren stillgelegter Lastenaufzug sollte drei von uns seheingeschränkten Wanderern und einem Guide den Abstieg beschleunigen und unseren Guides den Abstieg ohne uns erleichtern. Für uns Vier, die mit dem Lastenaufzug hinabfuhren, war es noch einmal ein besonderer Moment: Von oben hinabzuschauen auf die Wegstrecke, die wir gemeinsam in der kargen Felslandschaft zurückgelegt haben. Atemberaubend.

Atemraubend war auch die Höhe, über die wir mit der Seilbahn schwebten. Für den Fall, dass wir steckenbleiben würden, gab man uns ein Walkie Talkie mit. Sehr beruhigend. Nach einer circa 15-minütigen Fahrt, kamen wir sanft irgendwo im Nirgendwo an. Mit Navigation und unserem sehenden Begleiter erreichten wir sicher die Johannishütte. Unser blinder Wanderfreund erwartete uns schon. Es dauerte nicht lang und der Rest der Gruppe traf ein.

Völlig euphorisiert und reichlich Adrenalin im Blut, aßen wir unser letztes gemeinsames Abendmahl und ließen das Erlebte Revue passieren. Die letzte Nacht verbrachten wir gemeinsam im Bettenlager der Hütte. Es war die spartanischste Unterbringung auf der Tour. Doch das war uns egal. Zumal wir uns in den vergangenen zwei Tagen so vertraut geworden waren. Ruhig und aneinandergereiht versuchten wir, ein paar Stunden zu schlafen.

Dritter Tag, 14.07.2024 morgens in der Johannishütte
Bis 7:30 Uhr gab es Frühstück. Bis 8:30 Uhr mussten die Schlafplätze geräumt sein. Kinderspiel. Waren wir ja schon geübt. Heute mussten wir alles nur in den Rucksack stopfen und ab ging‘s. Wir brauchten keine eineinhalb Stunden bis zu unserem Ausgangspunkt, Wanderparkplatz Hinterbichl. Nun kam die Zeit des Abschiednehmens. Wir fühlten uns unendlich glücklich und vereint, waren stolz, scheinbar Unmögliches möglich gemacht zu machen.

Ich, Anne, werde wiederkommen. Hat mich der Berg dieses Mal nicht ganz bis nach oben gelassen, gelingt es beim nächsten Mal ganz sicher. Bestückt mit einem Sack voller Erfahrung und dem notwendigen Respekt komme ich wieder, um Frieden zu schließen mit dem Berg, der mir auf den letzten Metern so entgegentrat.

Danke für dieses unvergessliche Erlebnis!
Eure Bergabenteurer

Die Bergtour konnte dieses Jahr durch die großzügige Unterstützung durch (in alphabetischer Reihenfolge) Bayer Vital GmbH, den British Womens Club e. V., die Heidehof Stiftung GmbH und Okuvision GmbH realisiert werden.