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Usher-Syndrom: Rettungspläne für die Retina
Liebe Abonnenten,
das Usher-Syndrom ist eine seltene genetische Erkrankung und gleicht einem hochkomplexen Puzzle. Prof. Dr. Uwe Wolfrum und sein Team befassen sich an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz mit der Erforschung dieser Krankheit. Die Forschung gibt Kraft und Hoffnung für die Betroffenen und deren Angehörigen. Die Pro Retina-Stiftung unterstützt und fördert die Forschung.
Rettungspläne für die Retina
Es sind winzige Fehler mit schwersten Folgen: Beim Usher-Syndrom führen Genmutationen in den Zellen dazu, dass ein Mensch Gehör und Augenlicht verliert. Der Mainzer Zellbiologe Prof. Dr. Uwe Wolfrum erforscht die molekularen Hintergründe der seltenen Erbkrankheit – unterstützt von Stiftungen und nicht zuletzt von Betroffenen selbst.
"Beim schwerwiegendsten Typ dieser Erbkrankheit werden Kinder taub geboren", erklärt Prof. Dr. Uwe Wolfrum. "Schon beim Sitzen oder Krabbeln zeigen sich zudem Gleichgewichtsprobleme, später erblinden sie." Während der Hörverlust beim Usher-Syndrom heute durch Cochlea-Implantate kompensiert werden kann und sich Gleichgewichtsstörungen durch Training abmildern lassen, fehlt für die mit Usher einhergehende Netzhautdegeneration bislang jegliche Therapie. Für die rund 8.000 allein in Deutschland Betroffenen ist das eine schwere Belastung. "Die fortschreitende Beeinträchtigung mehrerer Sinne lässt die Diagnose zu einem Schicksalsschlag werden, der zunächst alle Lebensfreude nimmt", erklärt Wolfrum.
Als einer der führenden Forschenden in der Zell- und Molekularbiologie untersucht er am Institut für Molekulare Physiologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) Sinneszellen, ihre Funktion und ihre Rolle bei Erbkrankheiten – und widmet sich seit fast drei Jahrzehnten intensiv dem Usher-Syndrom. "Usher ist die häufigste erbliche Ursache für kombinierte Taubblindheit beim Menschen", erklärt Wolfrum. "Dabei führen Gendefekte in den Zellen des Innenohrs und der Netzhaut dazu, dass Genprodukte, also Eiweißmoleküle, die für die Funktion der Netzhaut und des Innenohrs notwendig sind, fehlen oder nur fehlerhaft hergestellt werden." Insbesondere betrifft dies die Sehzellen und führt im Auge zu einer Retinitis Pigmentosa. Die Netzhaut bildet sich langsam zurück und degeneriert – der Mensch erblindet. Dass bisher elf verschiedene Usher-Gene identifiziert wurden, deren Mutationen zu den verschiedenen Subtypen des Syndroms führen können, macht die Erforschung besonders herausfordernd. Hinzu kommen sogenannte modifizierende Gene, die die Ausprägung der Krankheit zusätzlich beeinflussen.
Für die Wissenschaftler bedeutet das Usher-Syndrom ein hochkomplexes Puzzle, für die Betroffenen eine fortschreitende Behinderung, die es jeden Tag körperlich und seelisch zu bewältigen gilt. Um die Forschung voranzutreiben und Patienten Hilfe und Hoffnung zu geben, stehen Wolfrum und sein Team in regem Austausch mit Patientenverbänden und Stiftungen wie der Foundation Fighting Blindness, USHER2020, der FAUN-Stiftung und Pro Retina – Stiftung zur Verhütung von Blindheit e.V.
Beistand für die Eltern
"Das Schlimmste für Betroffene ist die Nachricht, dass sie sehr wahrscheinlich erblinden werden – und es keine Heilung gibt", erklärt der stellvertretende Vorsitzende der Pro Retina –Stiftung zur Verhütung von Blindheit, Reinhard Rubow. Oft sind es die Eltern betroffener Kinder, die Beistand brauchen. Denn das Usher-Syndrom wird rezessiv vererbt, was heißt, dass es genetisch von Vater und Mutter weitergegeben werden muss. Diese sind selbst aber meist symptomfrei und wissen oft nichts von ihrer genetischen Disposition. Während eine mit der Pro Retina-Stiftung verbundene Patientenvereinigung Betroffene und ihre Angehörigen unterstützt und informiert, fördert die Stiftung selbst die Erforschung von Netzhautdegenerationen. Dazu veranstaltet sie Vorträge und Diskussionsveranstaltungen auch mit Forschenden, finanziert Stiftungsprofessuren, vergibt Stipendien und unterstützt wissenschaftliche Projekte wie das in Mainz.
Viele Betroffene schöpfen Kraft aus der Tatsache, dass Prof. Dr. Uwe Wolfrum mit seinem Team bereits in mehr als 50 Publikationen grundlegende Erkenntnisse über die zellulären Mechanismen, die zu Usher führen, gewonnen hat und potenzielle Therapien für das Auge erforscht. So erfahren sie von Versuchsvorhaben, Gentherapien auf das Usher-Syndrom zu übertragen, die bereits bei einer ähnlichen Netzhauterkrankung als Therapie zugelassen sind. "Dabei werden in die betroffenen Zellen korrekte Genkopien mithilfe harmloser Viren eingeschleust", erklärt Wolfrum. "Da die Moleküle einiger Usher-Typen jedoch für die bei ähnlichen Erkrankungen verwendeten Viren zu groß sind, arbeiten wir auch an alternativen Therapie-Methoden – beispielsweise an anderen Viren, die auch größere Gene transferieren können, oder an kleinen Molekülen oder aber auch an potenziellen Medikamenten, die Stoppmutationen überlesen." Stoppmutationen sind sehr häufig auftretende Mutationen, die dazu führen, dass die Synthese eines Proteins vorzeitig abgebrochen und nur ein funktionsloses Eiweißmolekül-Schnipsel produziert wird. "Werden solche Stopps überlesen, können wir ein funktionelles ganzes Protein erhalten und damit die Funktion der Sinneszelle wiederherstellen."
Der direkte Kontakt zu Betroffenen sei "gerade in der Erforschung seltener Erkrankungen von unschätzbarem Wert", erklärt Wolfrum, ob nun über Patientenvereinigungen und Stiftungen, beim International Symposium on Usher Syndrome an der JGU vor einigen Jahren oder im Therapie-Team der JGU, das seine Kollegin Dr. Kerstin Nagel-Wolfrum leitet. "Für manche Patienten schafft dieser Austausch das nötige Vertrauen, um überhaupt an Studien teilzunehmen", erklärt der Zellbiologe. "Zudem können wir aus Hautbiopsien von Patienten Zellen gewinnen und daraus 'lebendige' Augenmodelle herstellen." Hierfür wandeln die Forschenden diese Zellen im Labor in Stammzellen um und erzeugen daraus sogenannte retinale Organoide. "Diese 'Netzhäute in der Petrischale' stellen ein Modell für die menschliche Netzhaut dar. Sie haben deren Eigenschaften, indem sie alle retinalen Zelltypen besitzen, die charakteristischen Zellschichten ausbilden und durch Licht erregbar sind", erklärt Uwe Wolfrum. "So ermöglichen sie es uns, die Auswirkungen von defekten Genen auf die menschliche Netzhaut zu untersuchen und diese besser zu verstehen. Zudem können wir an Organoiden mögliche Therapien in einem menschlichen System testen."
Ein hoffnungsvoller, aber langer Weg
Parallel dazu arbeiten die Mainzer Forschenden an Tiermodellen für das Usher-Syndrom. Da Mausmodelle kein Usher im Auge entwickeln, arbeitet das JGU-Team zusammen mit Forschenden in München und Tschechien an genetisch modifizierten Usher-Schweinen. "Das weltweit vermutlich Einzigartige an diesem Ansatz ist, dass wir nun die molekularen Prozesse, die im Organismus dieser Tiermodelle zu Usher führen, direkt mit denen in den menschlichen Organoiden vergleichen können", betont Wolfrum.
Zwar seien dies wichtige und hoffnungsvolle Entwicklungen, doch der Weg zu einem Medikament gegen das Usher-Syndrom sei noch lang und schwer vorherzusagen. "Auf Basis der Erkenntnisse aus unserer Grundlagenforschung führen wir präklinische Untersuchungen zu möglichen Therapien an unseren Krankheitsmodellen durch, auf die schließlich klinische Studien mit Patienten folgen müssen", so Wolfrum. Ein grundlegendes Problem sei das häufig geringe Interesse von Pharma- und Medizintechnikunternehmen an der Erforschung seltener Erkrankungen wie Usher. "Denn die Grundlagenforschung und notwendigen Studien sind langwierig und teuer – und wenn sie tatsächlich in einem Medikament münden, wird es für nur wenige Patienten geeignet sein. Für ein gewinnorientiertes Unternehmen ist das nicht lukrativ."
Patientenvereinigungen und Stiftungen wie die Pro Retina-Stiftung fördern entsprechende Forschung deshalb auch finanziell. "Eine unserer zentralen Aufgaben ist das Fundraising für Forschungsprojekte wie die von Prof. Wolfrum", erklärt Reinhard Rubow. "Denn diese könnten eines Tages helfen, Menschen vor dem Erblinden zu bewahren." Die Pro Retina-Stiftung finanziert ihre Arbeit durch eine Kombination aus Unternehmensspenden, Erbschaften, staatlichen Fördermitteln, Mitgliedsbeiträgen und nicht zuletzt privaten Spenden, häufig von Betroffenen selbst oder deren Angehörigen.
Fundraising im Freundeskreis
Die Mutter eines kleinen Jungen, der am Usher-Syndrom erkrankt ist, wurde bei einer Spendenaktion besonders kreativ, berichtet Rubow. "Sie sammelte Geld im Freundeskreis, überzeugte ihr Lieblingsrestaurant, eine Benefiz-Aktion zu starten, und organisierte sogar einen Flohmarkt." Das Geld, das dabei zusammenkam, floss schließlich in einen Scheck über 25.000 Euro ein, den die Pro Retina-Stiftung im Juni 2024 den Mainzer Forschenden überreichte. Zwar sind solche Zuwendungen von Stiftungen und Patientenvereinigungen oft deutlich geringer als die Drittmittel, die Wolfrum etwa bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für seine Grundlagenforschung einwirbt, doch für die Finanzierung aufwendiger zellbiologischer Projekte sind sie eine sehr wertvolle Ergänzung. Sie helfen Finanzierungslücken zu schließen, um aktuelle Experimente ohne langwierige Antragstellung durchführen zu können. Darüber hinaus können sie das öffentliche Bewusstsein für die seltene Erkrankung erhöhen.
Ein gemeinsames Ziel ist es zudem, Nachwuchsforschende für die Forschung an seltenen Krankheiten zu gewinnen. Den meisten fehle dazu die persönliche Motivation – anders als etwa bei der Forschung an Krebs oder den weitverbreiteten Herz-Kreislauf-Erkrankungen, bei denen viele Menschen einen Betroffenen in der Familie oder im Freundeskreis haben. "Man muss deshalb auch zeigen, dass auf der Erforschung seltener Krankheiten wissenschaftliche Karrieren aufgebaut werden können", so Wolfrum. Die Pro Retina-Stiftung etwa veranstaltet jährlich eine Konferenz, bei der Nachwuchswissenschaftler ihre neuesten Ergebnisse vorstellen und sich "von Koryphäen wie Uwe Wolfrum inspirieren lassen", so Reinhard Rubow. Wolfrum selbst bemüht sich schon in seinen Lehrveranstaltungen an der JGU, Studierende und Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler für die Forschung zu seltenen Krankheiten zu begeistern.
"Die Grundlagenforschung an seltenen Erkrankungen eröffnet zunächst einen tiefen Einblick in die molekularen Mechanismen der gesunden Zelle", erklärt Wolfrum. "Dieses Wissen hilft dann, besser zu verstehen, warum es zur Erkrankung kommt." Zudem erarbeitet er mit seinem Team gentechnologische Verfahren, um Defekte in der Zelle zu kurieren. "Mithilfe der CRISPR-Technologie etwa, auch bekannt als Gen-Schere, lassen sich Gene präzise schneiden, Mutationen entfernen und verändern." Zwar seien solche Technologien derzeit noch nicht reif für die Anwendung am Patienten. "Aber es ist absehbar, dass sie eines Tages dabei helfen könnten, nicht nur das Usher-Syndrom, sondern auch viele andere bislang unheilbare Krankheiten zu therapieren."
Von Insektenantennen zu Gendefekten in der menschlichen Netzhaut
Als Wolfrum selbst promovierte, war noch kein einziges Usher-Gen identifiziert. In seiner Doktorarbeit befasste er sich mit den sensorischen Systemen von Insekten. "Dabei entdeckte ich Parallelen in den Sinneszellen von Insekten zu den menschlichen Photorezeptorzellen – und kam darüber zum Usher-Syndrom." In den Anfängen seiner Forschung besorgte er beim Schlachthof Rinderaugen, um daraus isolierte Zellen und Moleküle im Labor experimentell zu studieren. "Die später nach und nach identifizierten Usher-Gene kodieren für recht verschiedene Proteine", so Uwe Wolfrum. Erst die Entdeckung, dass diese Usher-Proteine in der Zelle miteinander interagieren und Netzwerke ausbilden, erbrachte eine molekulare Verbindung zwischen verschiedenen Usher-Typen. Zudem entdeckte Wolfrum, dass Usher-Mutationen zu Defekten in Zilien, den haarähnlichen Fortsätzen auf der Zelloberfläche, führen und charakterisierte das Usher-Syndrom damit auch als Ziliopathie. "Heute boomt die Erforschung von Ziliopathien, da sie auch bei Erkrankungen vieler anderer Organe, wie der Niere und des Gehirns, eine Rolle spielen."
Neue Hypothesen zu entwickeln, auch mal spekulative Ideen zu verfolgen und dabei wissenschaftliches Neuland zu betreten – das macht die Grundlagenforschung für Wolfrum bis heute so faszinierend. Doch besonders wichtig ist es ihm, jungen Forschenden zu vermitteln, für wen sie sich engagieren und auch mal zwölf statt acht Stunden arbeiten: "Und das sind nicht andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sondern schwerkranke Menschen und ihre Familien, die nichts sehnlicher erwarten als eine Therapie."
Quelle: magazin.uni-mainz.de vom 10.10.2024
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